: Wir sind alle ein bisschen Gasleuchte
Gegen die Berliner Gaslaternen spricht vieles: Sie sind ökologische Dreckschleudern und in Sachen Effizienz ein Debakel. Trotzdem haben sie in Zeiten der Sparpolitik das Zeug zum Symbol im Widerstand gegen Globalisierung und Neoliberalismus
VON JAN-HENDRIK WULF
Die Gaslaterne gilt als Symbol einer Zeit, in der alles für die Ewigkeit gebaut wurde. Auch im heutigen Berlin versehen noch – noch! – 43.908 Gaslaternen ihren Dienst in der öffentlichen Straßenbeleuchtung – ein knappes Fünftel des gesamten Laternenbestandes. Doch nach dem Willen der privaten Betreiberfirma Stadtlicht GmbH und des Bezirksamts Mitte, das seit 2001 für die gesamte Berliner Straßenbeleuchtung zuständig ist, soll die veraltete Gastechnik in zwei Jahren verschwunden sein.
Denn was bei seiner Einführung in Berlin im Jahre 1826 noch als bahnbrechende Neuerung gefeiert wurde, ist inzwischen ein teurer und umweltschädlicher Luxus. Mit 11,5 Millionen Euro schlucken die Berliner Gaslampen rund die Hälfte des städtischen Beleuchtungsetats. Eine einfache Gasleuchte mit einer Leistung von 1.000 Watt produziert kaum mehr Licht als eine 28-Watt-Energiesparbirne, erzeugt aber fünfmal so hohe Wartungskosten. Die Stadtlicht GmbH hat errechnet, dass sich hier jährlich bis zu 8 Millionen Euro einsparen ließen. Effizienzgewinne winken! Woher die 50–70 Millionen Euro für die Umrüstung kommen sollen, ist zurzeit noch unklar.
Die Berliner Gaslaternen sind tatsächlich wahre Dreckschleudern: Sie produzieren jährlich 50 Kilogramm schwach radioaktiven Sondermüll und blasen 43.000 Tonnen CO2 in die Erdatmosphäre. Den undichten Leitungen und den nachts vom Wind ausgeblasenen Lampen entweichen zudem 700.000 Kubikmeter ungenutztes Methangas. Glaubt man der Bezirksstadträtin für Stadtentwicklung, Dorothee Dubrau, ließen sich die Emissionswerte bei einer Umstellung auf Elektrizität um 75 Prozent senken.
Dass heutzutage überhaupt noch von Gasbeleuchtung die Rede ist, liegt an Auer von Welsbach. Der erfand 1892 den Glasglühstrumpf, ein mit Thoriumnitrat getränktes textiles Gewebe, das durch ein Gas-Luft-Gemisch ohne sichtbare Flamme zum Glühen gebracht wird. Dank seiner Leuchtkraft und der um 1900 eingeführten Gas-Fernzündung blieb das Auerlicht gegenüber der Elektrizität konkurrenzfähig. Seine Vorteile begannen erst in den Siebzigerjahren zu schwinden, als die alten städtischen Gasanstalten eingemottet wurden und das neue Erdgas aus der Pipeline kam.
Im Zuge dieser Umstellung schaffte Ostberlin die Gaslaternen flächendeckend ab. Lediglich 20 Gasleuchten im Bezirk Pankow, aufgestellt nach 1997 von privaten Hausbesitzern, halten die Fahne im Osten hoch. Erst 2004 schlug die Globalisierung auch in Westberlin zu: Der letzte Hersteller von Gasglühstrümpfen, die Berliner Firma Auer, wurde an ein indisches Konsortium verkauft und die Produktion nach Asien verlagert. Für die Berliner Gasbeleuchtung entstand nun ein Nachschubproblem, denn bislang dürfen die asiatischen Glühstrümpfe nicht nach Deutschland importiert werden. Das liegt womöglich daran, dass das seit über 100 Jahren benutzte Leuchtmittel Thoriumoxid schwach radioaktiv ist. Die Alternative für den europäischen Markt wird auf Elba produziert und hat eigentlich nur einen Nachteil: Sie muss alle drei Monate ausgewechselt werden.
Schon vor drei Jahren scheiterte ein erster Anlauf zur Abschaffung der Gaslaternen an den Protesten der Liebhaber. Sogar die Kommunalpolitik entdeckte damals den besonderen Charme des gelbgoldenen Auerlichts: „Dieser Reiz würde bei einer Umstellung auf elektrisches Licht verloren gehen und die Erhöhung des Wohnwerts und der touristischen Anziehungskraft tangieren“, hieß es 2002 in einem Antrag der CDU-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf. Der drohenden Proteste eingedenk wollen das Bezirksamt Mitte und die Stadtlicht GmbH die technische Umstellung nun so unspektakulär wie möglich gestalten. In den betroffenen Wohngebieten sollen die alten gusseisernen Masten stehen bleiben. Und in einem versteckten Winkel von Spandau sind vier Prototypen der elektrischen Zukunft schon einmal zu besichtigen.
Wenn am Abend in der Daberkowstraße die Gaslaternen aufleuchten, verraten sich die vier elektrischen Wiedergänger durch ein von Mast zu Mast gespanntes Stromkabel und das fehlende Fauchgeräusch. In der teuersten Ausführung verbreiten Glühstrumpf-Imitate ein edelviolettes Licht. Zwei weitere Modelle leuchten in Ostberliner Grellorange und in Westberliner Kaltweiß. Doch ausgerechnet eine besonders unschöne, mit speziellem Leuchtgas gefüllte Energiesparlampe kann das im direkten Vergleich eher grünstichige Auerlicht am besten nachbilden. An den Masten der umgerüsteten Laternen in der Daberkowstraße kleben bereits die Protestanschläge eines anonymen Modernisierungsgegners: „Das Gaslicht muss bleiben!“ Und: „Dieser Leuchte wurde bereits das Gas abgedreht!“
Ironischerweise können alle rationalen Argumente für die Abschaffung des Gaslichts seine Befürworter nur beflügeln. Gerade weil die Gasbeleuchtung zum weiteren finanziellen Sargnagel der Metropole erklärt wird, gerade weil sie entsetzlich teuer, unpraktisch und umweltschädigend ist, vermittelt sie inmitten aller Sparappelle und unerfüllten Effizienzversprechen ein nostalgisches Gefühl von Authentizität. Nicht wenigen Bewohnern der Stadt müsste es in Zeiten von Hartz IV und Co doch eigentlich leicht fallen, sich mit den ineffizienten und von Einsparbeschlüssen bedrohten Gaslampen zu identifizieren. Gut, dass die Protestler in der Daberkowstraße eine Solidarisierungsadresse hinterlassen haben: gaslicht@gmx.de. Sind wir nicht alle ein bisschen Gasleuchte?