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Ein Fundus an Formen und Texten

Kein „Project Space“, sondern ein Rechercheprojekt für experimentelles Grafikdesign soll ein neuer Raum in Mitte namens A–Z sein. Betrieben wird er von der Buchgestalterin und Verlegerin Anja Lutz

Von Martin Conrads

Der Halbgeviert-Strich – so lehrt das typografische Nachschlagewerk – hat keine festgelegte Länge. Einsetzbar ist er als Gedankenstrich, Streckenstrich, Bis-Strich, Spiegelstrich, Auslassungsstrich und Minuszeichen. Im Fall von Anja Lutz’ Ladenlokal „A–Z“ in der Torstraße 93 in Mitte treffen gleich mehrere dieser Verwendungen zu: als neuer Raum für „experimentelles Grafikdesign“ in Berlin markiert der Strich im Namen programmatisch einen Strecken- und Bis-Strich – für einen Ort, an dem über vorerst zwei Jahre unter anderem mit Typografie agierende Ausstellungen an der Grenze zu anderen Disziplinen gezeigt werden sollen. Und als Auslassungsstrich ist der Halbgeviert-Strich bei der auf das Erdgeschossfenster aufgeklebten Logotype „A–Z“ fast so lang, dass er auch für „nja Lut“ stehen könnte. Dass ihr Name von A bis Z eingerahmt wird ­­– ein für eine Grafikdesignerin glücklicher Umstand, der sich Lutz selbst erst spät im Leben erschloss.

Anja Lutz ist Buchgestalterin, sie designt Bücher von und für Künstlerinnen und Künstler – Angela Bulloch, Loriot, Julian Charrière, Hannah Höch. Mit dem 2005 von ihr mitgegründeten Verlag The Green Box hat sie zusätzlich mittlerweile über 80 Künstler/innenbücher verlegt und entsprechende Editionen herausgegeben. Ein graues Regal mit jenen Büchern auf der oberen, über ein paar Stufen zu erreichenden Ebene des „A–Z“ trennt das Verlagsbüro vom unteren Ausstellungs- und Veranstaltungsbereich eher symbolisch ab. Die gelbe Bodenfarbe, die weiße Wandfarbe und die sechs dünnen Neonröhren an der Decke stellen eine weichgrell konturierte Stimmung her, als gezielte Antwort auf den unnötig überbordenden Fassadenstuck des Gründerzeitaltbaus.

Mit ihrem Mitte April eröffneten Raum will Lutz, neben Gestalterinnen- und Verlags­tätigkeit, ein drittes Fass aufmachen, wie sie sagt. Kein ­„Project Space“ soll der von ihr „A to Z“ ausgesprochene Raum sein, und schon gar keine Galerie, sondern eher „wie ein Rechercheprojekt“ funktionieren, als „konzepthafter Raum“. Für dessen Programm will sie allein zuständig sein, auch wenn die einzelnen Ausstellungen – zehn sollen es erst einmal sein, die dann durch eine Printpublikation zusammengefasst werden – gemeinsam mit den jeweils eingeladenen Gestalter/innen entwickelt werden.

So auch die Eröffnungsausstellung „Library of Shapes, Texts and Structures“ (bis 8. Juni) der an der Kunsthochschule in Halle lehrenden Berliner Schriftgestalterin Andrea Tinnes: Ihre „Bibliothek“ beinhaltet die Ergebnisse einer seit Jahren von ihr unternommenen visuellen Recherche. Sie umfasst – sorgsam dokumentiert, kategorisiert und archiviert – neben zwei von ihr selbst entwickelten Schriftsystemen auch einen Fundus an Formen und Texten, den sie in Jahren gezielten Medienkonsums als ausreichend interessante Elemente für ihre Sammlung erachtete und dieser hinzufügte.

42 unterschiedliche Offsetplakate hat Tinnes aus Kombinationen von einigen dieser Tausende von Elementen gestaltet; angenehm komplex treten die Drucke mit dem Minimalismus des Raums in Kontakt. Jedes Plakat ist anders, und doch ist der gemeinsame Duktus an Farben und Formen sofort erkennbar. Sie flankieren nun das Entrée des „A–Z“ und rahmen dabei ein von dem Ausstellungsgestalter Birger Lipinski für Lutz entworfenes und von den Handwerkerinnen von „Baufachfrau Berlin“ konstruiertes, mit Buchschrauben (!) zusammengehaltenes modulares Möbel ein.

Hier sind – dies der experimentelle, da der Gestaltung auf den Grund gehende Teil der Ausstellung – in mehreren Dutzend Ordnern und auf Anregung von Lutz zum ersten Mal öffentlich alle von Tinnes verwendeten Designelemente aufs Detaillierteste ausdifferenziert präsentiert. Kann es Zufall sein, dass diese Library just in jenen Tagen gezeigt wird, da Niklas Luhmanns legendärer „Zettelkasten“ online ging? Anja Lutz glaubt daran.

Präsentieren will Lutz Grafikdesign in verschiedensten Formaten: Von Vorträgen und Workshops von Designhochschulen ist die Rede und von der nächsten Ausstellung – ab Juni –, bei der das australische Designkollektiv „Inkahoots“, auf Leuchtbuchstaben basierend, textlich durch die Besucher/innen veränderbare Versionen von Nationalhymnen zeigen werde.

Blickt man aus dem Fenster des „A-Z“, sieht man direkt auf Rafael Horzons „Deutsches Zentrum für Dokumentarfotografie“ – den anderen großen Berliner Nichtprojektraum für experimentelles Grafikdesign. Ist es Übertreibung, wenn man behauptet, dass ganz Mitte da­rauf wartet, mit welchem Coup Horzon auf das neue Vis-à-vis reagieren wird?

Andererseits hat die Vorstellung, wie sich Horzon und Lutz jeden Morgen beim Aufschließen ihrer Konzeptdesignräume durch die bimmelnden Trams hinweg freundlich ­zunicken, in seiner Monsieur-Hulot-­haftigkeit etwas ungemein Einvernehmliches, das Mitte schon lange nicht mehr gesehen hat.

„A–Z“, Torstraße 93, Mitte. Öffnungszeiten nach Vereinbarung. www.a-z-presents.com

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