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Archiv-Artikel

Berlin Fernost

LICHTENBERG Das Dong-Xuan-Center ist der zweitgrößte Asiamarkt Europas. Zu kaufen gibt es hier praktisch alles – auch Hehlerware. Für den Bezirk ist das riesige Center Chance und Herausforderung

Die Wollhandkrabben in den Läden stammen nicht aus Fernost, sondern aus der Havel

VON MARINA MAI

Das Restaurant Duc Anh hat den Charme einer Wartehalle. Die Gäste sitzen dicht gedrängt auf einfachen Holzstühlen, auf den Tischen stecken Löffel, Gabeln und Stäbchen in Geschirrkörben aus Plastik. Von Bildschirmen an der Wand flimmert das vietnamesische Staatsfernsehen. Die Speisekarten in abgegriffenen Plastikhüllen sind zweisprachig: deutsch und vietnamesisch.

Das Duc Anh befindet sich im Dong-Xuan-Center, Berlins größtem Asiamarkt in der Lichtenberger Herzbergstraße. Obwohl dem Restaurant jede Gemütlichkeit fehlt, obwohl das Essen einer Massenabfertigung ähnelt, ist es unter Berlins Vietnamesen eines der beliebtesten. Eines, wo man Hochzeiten feiert – nicht obwohl, sondern weil es voll ist.

„Wo viele Gäste sind, sind die Zutaten immer frisch“, sagt Vu Trung, der Werbetafeln für Asia-Imbisse herstellt und hier regelmäßig zu Mittag isst. Frisch heißt: Die Frühlingszwiebeln und der Koriander haben Biss. Dass das Duc Anh wohl keinen Smiley für perfekte Sauberkeit bekäme, stört Vu Trung nicht.

Mit 118.000 Quadratmetern in fünf Leichtmetallhallen und mehreren alten Industriegebäuden aus Backstein ist das Dong-Xuan-Center auch der zweitgrößte Asiamarkt von ganz Europa. Vietnamesen, Chinesen, Inder und Pakistaner, aber auch Deutsche und Türken bieten hier Produkte im Groß- und Einzelhandel an. Bunte, billige Massenware aus China türmt sich neben duftenden Mangos und modischer Leinenkleidung aus Indien. Laut der firmeneigenen Website arbeiten rund 1.000 Menschen für die GmbH.

„Günstig sind die Mietpreise hier nicht“, sagt ein Inder, der vor seinem Textilladen steht. „Der Chef, ein Vietnamese, weiß, dass er nahezu konkurrenzlos ist.“ Er als Händler müsse aber dorthin gehen, wo die Kunden sind. Und im Dong-Xuan-Center profitiert er von Synergieeffekten. Noch vor zehn Jahren habe es in Berlin eine zweistellige Zahl asiatischer Großhandelsmärkte gegeben, sagt der Händler. „Heute gibt es den Dong-Xuan-Markt und zwei kleine.“ Andere Asiamärkte, so eine vietnamesische Händlerin, „sind kaputt gegangen, während Dong-Xuan-Center von Jahr zu Jahr wuchs.“ Der Chef des Marktes könnte dazu wahrscheinlich noch mehr sagen. Aber auch nach mehreren Anfragen war er nicht zu einem Gespräch bereit.

Die Synergieeffekte des Marktes ziehen auch Nichtasiaten an. Norah Valeriano ist Bolivianerin und verkauft im Dong-Xuan-Center indianische Kunst und Berlin-Souvenirs an Inhaber von Touristenläden. Ihr Shop-Nachbar kommt aus Algerien und verkauft Handarbeiten aus Thailand: Holzschnitzarbeiten, Kleinmöbel und Folklorekleider erinnern an einen Weltladen.

Spielende Kinder

Inmitten der bunten Glitzerwelt rasen zwei vietnamesische Kinder auf ihren Cityrollern um die Wette. Ein Junge auf dem Dreirad schaut ihnen zu. Die Eltern arbeiten, die Kleinen verwandeln die Gänge des Centers in einen Spielplatz. „In den Ferien und an jedem Wochenende spiele ich hier“, sagt die achtjährige Ha. Ihre 16-jährige Schwester, die in den Ferien hinter dem Verkaufstresen steht, anstatt zu verreisen, ergänzt: „Klar vermissen wir gemeinsame Aktivitäten mit der Familie. Aber meine Eltern müssen immer arbeiten.“

In den Läden für asiatische Lebensmittel werden Wollhandkrabben angeboten. Das Besondere daran: Die Tiere stammen nicht aus Fernost, sondern aus Elbe und Havel. Findige Brandenburger Fischer haben hier für den einstigen Schädling, der Fischerreusen zerstört, einen dankbaren Absatzmarkt gefunden. Auch Wasserspinat und andere asiatische Blattgemüse werden mittlerweile in kleinen Landwirtschaftsbetrieben in Brandenburg und am Berliner Stadtrand angebaut und in Lichtenberg direkt vermarktet.

Selbst sogenannte Trung Vit lon findet man hier: angebrütete Enteneier. In Vietnam gilt es als Delikatesse, Entenküken aus dem Ei zu essen, die schon Schnäbel und dünne Knochen ausgebildet haben. In Deutschland ist der Verkauf verboten, aber viele Berliner Vietnamesen wissen, wo sie auf dem Markt suchen müssen. Die Grenzen zwischen formeller und informeller Ökonomie sind fließend im Dong-Xuan-Center, das nach dem größten Markt in Hanoi benannt ist. Im Lichtenberger Ordnungsamt büffeln zwei Lebensmittelkontrolleurinnen gerade Vietnamesisch – „damit sie auch Aushänge und Gespräche verstehen“, wie Ordnungsstadtrat Andreas Prüfer (Linke) sagt. „Als Großhandelsmarkt hat das Dong-Xuan-Center eine hohe Kontrollpriorität, aber wir können nicht immer vor Ort sein.“

An den Wochenenden bieten fliegende Händler laut Polizei regelmäßig Hehlerware an. Die Beamten selbst sind jedoch nur manchmal vor Ort. Ein Polizist, den das ärgert, sagt, der Markt sei so riesig, dass man nur mit kontinuierlich hohem Personalaufwand etwas dagegen tun könne. Das Personal bekomme man aber nicht, weil Hehlerei im Asiamarkt die Öffentlichkeit kaum interessiere – anders als Autobrandstiftungen oder Rockerkriminalität.

Viel von der Massenware auf dem Markt kommt aus Fernost. Billigtextilien aus China wandern in großen Mengen in die Hände polnischer Händler. Die verkaufen sie an den Grenzmärkten an deutsche Schnäppchenjäger, die nicht ahnen, dass sie die Ware in Berlin noch billiger bekommen könnten. Für vietnamesische Zeitungen und DVDs, die immer dienstags eingeflogen werden, versorgen einen Einzugsbereich von Rügen bis Göttingen, von Lodz bis an die niederländische Grenze. „Das Dong-Xuan-Center ist für Lichtenberg ein echter Wirtschaftsfaktor geworden“, freut sich Bezirksbürgermeister Andreas Geisel (SPD). „Es ist ein bunter Fleck und wird zunehmend von Berlinern und Touristen entdeckt, die hier ihrem Bedürfnis nach exotischem Einkauf nachgehen.“

Kein Kulturhaus

Ursprünglich wurde der Markt für den Großhandel gebaut, heute sind auch Einzelhändler präsent. „Wir tolerieren als Bezirk den geringfügigen Einzelhandel“, sagt Geisel. Wenn sich ein Standort zwischen formeller und informeller Ökonomie bewegt, ist das für den Bezirk allerdings eine besondere Herausforderung. Ordnungsstadtrat Andreas Prüfer wünscht sich aber mehr Unterstützung vom Land. „Das Unternehmen und wir als Bezirk wollen ein Kulturhaus aus DDR-Zeiten auf dem Markt wiederbeleben, damit dort kulturelle Angebote für Vietnamesen aus der juristischen Grauzone geholt werden.“ Der Senat lehne das jedoch ab, weil die Fläche nicht für Kultur vorgesehen sei.

Als das Lichtenberger Unternehmen mit den meisten Arbeitsplätzen ist der Markt dem Bezirk lieb und teuer. Das weiß man auch im Landeskriminalamt: „Als wir eine Razzia gegen Schleuser machten, rief uns hinterher ein Stadtrat an“, sagt ein Beamter. „Er bat uns, behutsam vorzugehen, weil der Markt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sei.“

Für Zuwanderer aus Fernost ist das Dong-Xuan-Center Chance und geschlossene Gesellschaft zugleich. Als Vietnamese kann man hier ohne Deutschkenntnisse überleben. Es gibt selbst eine Arztpraxis, ein Anwaltsbüro und eine Fahrschule, in denen Vietnamesich gesprochen wird. Integrationsprobleme werden dadurch aber leicht übersehen.

Die Polizei nutzt das Netzwerk des Marktes für die Suche nach vietnamesischen Straftätern. Aushänge im Center sind ihre Chance, Vietnamesen um Mithilfe zu bitten. Blätter mit Polizeisiegel, die Beobachter einer Messerstecherei um Hinweise bitten, hängen hier zwischen Taxiwerbung und religiösen Angeboten. „Wir bekommen vereinzelt Resonanz“, sagt Polizeisprecher Michael Gassen zu den Aushängen. „Aber sie könnte höher sein.“

Das Dong-Xuan-Center repräsentiert gegenüber vietnamesischen Politikern und Medien gern die deutschen Auslandsvietnamesen. Als Vietnams Vizepräsidentin Troung My Hoa die Schweiz besuchte, machte sie einen Abstecher nach Berlin – nicht zu Angela Merkel, sondern ins Center, wo sie von fähnchenschwingenden Landsleuten empfangen wurde.

Soziale Funktion

Dass ein Markt dieser Größe eine soziale Funktion hat, ist für die Leitung ein Lernprozess. Auf Bitte des Bezirksamtes spendete das Centermanagement einmal Geld für die Musikschule des Bezirks. Ein Projekt zur Prävention von Spielsucht, die laut Projektleiter Jürgen Schaffranek unter Vietnamesen verbreitet ist, kämpfte ein Jahr um die Erlaubnis, Kummerbriefkästen anzubringen. Die Marktleitung mauerte, erst als sich das Bezirksamt einschaltete, durften die Kästen hängen.

Trang Nguyen* ist Zeitschriften-Großhändlerin. Sie sitzt allein im Laden. Kunden stehen an der Kasse Schlange, aber sie telefoniert in aller Ruhe zu Ende. Mit schlecht gelauntem Gesicht kassiert sie schließlich ab. Trang kam Mitte der neunziger Jahre nach Deutschland, ohne Papiere. Da verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf unverzollter Zigaretten. Damals, sagt sie, habe sie die Kunden freundlich gegrüßt. Heute hat das die Endvierzigerin nicht mehr nötig: Als angesehene Geschäftsfrau steht sie in der Hierarchie der Berliner Vietnamesen weit oben und kann erwarten, dass Kunden sie zuerst grüßen, ihr Respekt zollen. Viele Vietnamesen stellen Reichtum bewusst zur Schau – auch durch Unfreundlichkeit gegenüber Rangniederen.

Der erste Tourismusanbieter hat den Markt schon entdeckt: „Berlin on bike“ lässt Touristen mehrmals in der Woche für 30 Minuten in die exotische Glitzerwelt eintauchen. Es wird nicht lange dauern, bis das Dong-Xuan-Center in den ersten Reiseführern steht.

*Name geändert