: Durchs Orchester spazieren
NEUE MUSIK Wenn alle aufeinander hören: Die Musiktage Donaueschingen
Wenn der Schlagzeuger unterm Vibrafon liegt und einen Luftballon aufbläst und der Geiger seinen Pultnachbarn mit der Bogenspitze anstößt, um zum nächsten Partiturabschnitt überzuleiten, dann ist man angekommen in Donaueschingen. Die neue Musik ist eine Kunst der Irritationen und Überraschungen. Und um sich dessen zu vergewissern, reist man jeden Oktober in den Schwarzwald, wo Komponisten von jeher ihre Novitäten präsentieren.
Mit Horror unterhalten
In diesem Jahr knüpften gleich zwei Arbeiten an die Ästhetik des Horrorfilms an und zelebrierten die Kunst des Grusels und Splatters. Der Peruaner Jimmy López beschwor, in kleinster Besetzung, eine mittelalterliche Monsterlegende, während der Franzose Raphaël Cendo die apokalyptische Offenbarung des Johannes für großes Ensemble vertonte – mit bösartig verzerrten Stimmen und düsteren Klangeffekten. Beide Stücke waren über die Maßen plakativ, vollkommen überzogen und dabei zutiefst unterhaltsam.
Zwei andere Ensemble-Werke griffen die Ästhetik des Freejazz auf. Der junge US-Amerikaner Christopher Trebue Moore und der Franzose Franck Bedrossian orientierten sich an der Energie und am Klangbild der musikalischen Befreiungsversuche im Jazz der Siebzigerjahre, mit strömenden Linien, die an Coleman und Coltrane erinnerten, aber auch mit diffusen Klangverstreuungen und negativen Höhepunkten. Das alles war ausgearbeitet, mit komplexen Überlagerungen und sorgfältig geplanten Kollisionen.
Trotzdem blieb all das eigentlich nur Beiwerk in einem Festival, das heuer von einem großen Musiktheaterprojekt dominiert wurde. Der Kölner Komponist Manos Tsangaris hatte mit seiner sich über zwei Tage erstreckenden Oper „Batsheba. Eat The History!“ eine biblischen Legende und eine tragische Internet-Liebesgeschichte miteinander verschränkt. Tsangaris hat das Musiktheater in den vergangen zehn Jahren grundlegend revolutioniert. In seinen theatralischen Miniaturzyklen setzte er Klänge, Gesten und Texte oft mit ganz einfachen Mitteln ins Werk. Seine nur wenige Minuten währenden Stücke liefen dabei oft auf eine feine, überraschende Pointe zu, während sie sich in der Totale zu weitläufigen Bedeutungsnetzen verknüpften, die einen Stoff aus ganz unterschiedlichen Perspektiven heraus ausleuchteten.
Jetzt aber sollte alles anders werden. Tsangaris strebte nach Größerem. Dabei nimmt man ihm keineswegs übel, dass ihm manches missriet, dass die Orchesterpartien holzschnittartig wirkten, der Gesang eher schwerfällig daherkam, sein Textbuch an der Kluft zwischen Banalität und überhöhten Philosophemen zerschellte. Jeder komponiert gelegentlich ein schwächeres Werk. Was man Tsangaris aber übelnehmen muss, ist, dass er glaubte, eine große Oper schreiben zu müssen, dass er sich dazu herabgelassen hat, eine Geschichte in bravster Linearität zu erzählen, dass er das Epische suchte und das Pathos nicht scheute. Er hat damit all jene Unerträglichkeiten der Oper reaktiviert, die er selbst erfolgreich abgeschafft hatte.
So blickte man am Schluss wieder auf das, was in Donaueschingen doch eigentlich im Mittelpunkt steht: die Orchestermusik. Der Italienier Salvatore Sciarrino und der Schweizer Beat Furrer zersetzten den sinfonischen Apparat mit feingeistigen Klanggesten, mit Atem- und Seufzermotiven, und überzeugten dennoch nicht. Zu sehr knüpften beide an bewährte Schemata an.
Suchen und erfüllen
Ganz anders Mathias Spahlingers Orchester-Environment „doppelt bejaht“. Spahlinger hat für seine „etüden für orchester ohne dirigent“ Prozesse skizziert und grafisch angedeutet, in deren Verlauf die Orchestermitglieder musikalisch auseinanderstreben oder aber zueinanderfinden. Die einzelnen Etüden heißen zum Beispiel „verzweigung“, „äquidistanz“ oder schlicht „treppauf, treppab“. Spahliner geht es um die Selbstbestimmung des Musikers, darum, dass Musik entsteht, wenn alle aufeinander hören und den musikalischen Prozess gleichermaßen prägen.
Im Verlauf des vierstündigen, vom Publikum frei begehbaren Stückes entstanden immer wieder Momente von fast magischer Schönheit, ein Kairos, in dem sich ein musikalischer Prozess erfüllte, aber auch Augenblicke des Suchens, des Stockens und der zerfließenden Ungewissheit.
Mit der Etüde geht neben einem künstlerischen Anspruch immer auch ein pädagogischer Anspruch einher. Spahlinger deutet an, dass auch ein Orchester Techniken des Zusammenspiels lernen kann und sollte. Er machte aber auch damit deutlich, dass die musikalische Praxis immer auch eine soziale Praxis ist. Dort, wo wir das vergessen, vergehen wir uns an der Musik selbst. BJÖRN GOTTSTEIN