: Gucklöcher in den braunen Alltag
Umcodierung als Werkzeug zur Aneignung von Wirklichkeit: Die Hamburger Kunsthalle zeigt zu dessen 80. Geburtstag eine umfassende Retrospektive des Künstlers KP Brehmer
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Von Hajo Schiff
Briefmarken sind nicht gerade als Hauptfeld politischer Kunst bekannt. Aber der Hamburger Künstler KP Brehmer nimmt den kulturellen Anspruch der gezähnten staatlichen Aufkleber ernst. Er vergrößert die Originale, kombiniert sie auf neue Weise und ergänzt sie um freie Erfindungen, wie eine bundesdeutsche Thälmann-Marke oder einen Lenin aus Frankreich. Und wenn dann noch auf einer großen Tüte DDR-Marken der Ramsch-Aufkleber „Billiger: -,99 DM“ prunkt, dürfte die politische Richtung klar sein.
Wer aber ist KP Brehmer? Das Verwirrspiel beginnt schon mit dem Namen. KP steht für Klaus Peter, in der damit assoziierten Partei aber war der 1938 in Berlin geborene Künstler nie Mitglied – Sympathien möglich. In den 1960er-Jahren entwickelte der ausgebildete Reproduktionstechniker und Graphiker in Berlin seine politische Pop-Art und gehörte mit Sigmar Polke, Gerhard Richter und Wolf Vostell zum Kreis der Künstler des „Kapitalistischen Realismus“.
In Hamburg hatte er schon 1971 im Kunstverein seine erste Retrospektive und seit demselben Jahr bis zu seinem frühen Tod 1997 war er ordentlicher Professor an der Kunsthochschule am Lerchenfeld. Mit über 200 Arbeiten macht jetzt eine Ausstellung in der Kunsthalle Station, die zu seinem 80. Geburtstag in Nürnberg eröffnet wurde. Nach der Station in Hamburg geht es noch weiter nach Den Haag und Istanbul.
Schon vor dem Haus fallen die seltsam disproportionierten deutschen Flaggen auf. Sie gehören zum titelgebenden Projekt „Korrektur der Nationalfarben“. Indem er Schwarz dem Mittelstand zuordnet, Rot den restlichen Haushalten und das dominierende „Gold“ dem Großkapital, macht KP Brehmer das Nationaltuch 1970 zu einer Veranschaulichung der prozentualen Vermögensverhältnisse. Ohnehin weiß ja kaum jemand, wofür überhaupt die deutschen Nationalfarben stehen.
Umcodierungen alltäglichen visuellen Materials sind ein grundlegendes Arbeitsprinzip des Künstlers, der Kunst als Werkzeug zur Aneignung von Wirklichkeit versteht. So werden auch die im Druckgewerbe üblichen Farbtafeln zum Erkenntnisinstrument zum Aufbau einer idealen Landschaft oder zur Einschätzung der Braunwerte.
Überall Hakenkreuze
Dabei ist der fünffach verschiedene Braunfächer mit dem Rasterdruck eines NS-Propagandaministers versehen und mit einem Loch ausgestattet, damit es möglich ist, täglich den „braunen“ Anteil nicht nur einer großen, bildbetonten Zeitung einzuschätzen – eine Idee von 1968, die inzwischen wieder sehr aktuell scheint.
„KP Brehmer: Korrektur der Nationalfarben“: bis 23. Juni, Hamburger Kunsthalle
Hommage „Über Bilder reden – KP Brehmer & Freunde“: Fr, 3. Mai, Künstlerhaus Frise, Hamburg
Symposium anlässlich der Ausstellung „Ideologische Kleptomanie“: Fr/Sa, 17./18. Mai, Hochschule für bildende Künste und Kunsthalle, Hamburg
Die Gegenwärtigkeit von alten Ideologien findet sich auch bei einer Farbverstärkung des früher üblichen Fernseh-Testbildes, bei dem so ein Hakenkreuz sichtbar wird, genau wie sowieso in jedem Fensterkreuz, wenn vier Teilsegmente weggedacht werden. Das ist bei allem Ernst auch stets von einigem Witz, will immer die Wahrnehmung befördern, aber nie neue Denkverbote fordern.
Nicht nur Werbeaufsteller und Statistiken, Landkarten und Infographiken formt KP Brehmer um, auch Wärmebilder und Musik. So gibt es einige konkrete Kompositionsbilder und die zehn Klangbilder von Modest Mussorgskys Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ hat er per Sonagramm in abstrakte Malerei zurückverwandelt – der Sound ist mit CD-Playern abrufbar.
Und was dann doch mal wie freie, farbstarke Malerei aussieht, etwa „Der Kuss“ oder „Erregtes Paar“ sind auf Leinwand übertragene technische Wärmebilder, die dann prompt schriftlich mit „Dies ist kein modernes Gemälde“ kommentiert werden, um jeden Verdacht von plötzlichem Romantizismus oder damals markgängiger „wilder“ Malerei auszuräumen.
Auch die farbigen Balkendiagramme zu Beschäftigungsstatistiken sind ja keine Gemälde – aber eben auch kaum mehr wissenschaftliche Behauptungen. So wie die Kunst den eindeutigen Informationsgehalt von Visualisierungen anzweifelt, so sehr ist sie doch eine Methode der Welterfahrung, sofern die Kontexte mitgedacht werden.
Die große Arbeit „Seele und Gefühl eines Arbeiters“, nach einer einigermaßen seltsamen US-amerikanischen, quasi naturwissenschaftlichen Methode der 1930er-Jahre visualisiert, zeigt genau das nicht, was der Titel so vereinfacht suggeriert. Und spricht doch einen Bereich an, der in der westlichen Kunst sonst selten thematisiert wird.
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Auch seine eigene Befindlichkeit setzt KP Brehmer in Graphen um und umkreist sie in Filmen. Dabei gibt die 12-teilige Videowand mit den filmischen Notizen aus der Kunstschule und dem Privatleben, kombiniert mit der vom TV abgefilmten Politik ein gutes Gefühl für die 70er als Kontext dieser Kunst.
Ob KP Brehmer wandfüllend die Zeitzonen der Erde malt oder die Wahrscheinlichkeitskurve zum Ausbruch eines neuen Weltkrieges, das Investitionsklima in Lateinamerika, die Rohstoffpreise oder die Haarfarbenverteilung in Frankreich zum Bild macht, immer weisen die Ausgangszitate in der neuen Form über ihr ursprüngliches Anliegen hinaus, werden als ideologische Setzungen sichtbar und dekuvriert.
Zitate aus dem Wirtschaftsteil wie „Der Westen hat die größeren Schweine“ oder von der Wissenschaftsseite wie „Die Breite des Bildes entspricht etwa einer Million Lichtjahre“ lassen erst stocken, führen dann zum Lächeln und bewirken schließlich eine kritische Haltung gegenüber den Sprachhülsen, mit denen die Welt vermittelt wird.
Und in dieser aufklärerischen, aber ganz unverbiesterten Art ist das Werk von KP Brehmer heute in den Zeiten der Überflutung mit Scheinevidenzen und Fake-News aktueller denn je.
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