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Lieber einsam als zweite Wahl

Das macht die Liebe: Der unerbittliche Kritiker mutiert zum bettelnden Männlein, der redegewandte Großkotzzum gekränkten Kleinmütigen. Am Deutschen Theater hat Anne Lenk „Der Menschenfeind“ von Molière inszeniert

Von Katrin Ullmann

Es ist die Liebe, vermutlich sogar der Liebeswahn, dem Alceste erlegen ist. Wie sonst könnte er all seinen Prinzipien zuwiderhandeln? Wie sonst könnte er gerade dieser Frau erliegen? Er, der die Moral hochhält und die Ehrlichkeit. Er, der immerzu die Wahrheit fordert und stets das offene Wort. Nun hat er sich in Célimène verliebt. Sie, die junge Witwe, ist eine, die das Leben liebt, die Männer und den lockeren Scherz. Er ist „der Menschenfeind“, sie eine Spielerin.

Am Deutschen Theater inszeniert Anne Lenk Molières Komödie aus dem Jahre 1666 und bringt das darin zelebrierte Kräftemessen mit kühler Amüsiertheit auf die Bühne. Da ist Ulrich Mattes ein stiller Verzweifler, Franziska Machens eine bedenkenlose Gesellschaftslöwin. Auf engem Raum duellieren sie sich im rhetorischen Gefecht. In klug gereimten Versen schlägt ein Argument das andere, trickst eine Formulierung die andere aus. Lenk verwendet die großartige Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens: deren feinsinnigen Wortwitz nehmen die acht Darsteller genussvoll auf, lassen sich ausreichend Zeit für Pausen und Pointen. An diesem Abend überwiegt die ironische Distanz, erst ganz am Ende brüllt Mattes Alcestes tiefe Verletztheit in den Raum. Als dieser erkennt, dass Célimène kein Interesse hat an ihm und der von ihm erstrebten „Einsamkeit zu zweit“.

Alceste ist natürlich ein Narzisst. Doch ist er auch einer, den die Liebe überrennt. Unerklärbar und unkontrollierbar, ein Zustand wie ein krankhafter Wahn. Mattes spielt diese Figur mit großer Genauigkeit, vor allem aber mit großer Zurückhaltung. Und so erlebt man einen „Menschenfeind“, der nicht nur den Glauben an die Menschheit, sondern bald auch an sich selbst verloren hat. Einen, der zunehmend verunsichert ist und irritiert. Der vom unerbittlichen Kritiker zu einem um Liebe bettelndes Männlein, vom redegewandten Großkotz zum gekränkten Kleinmütigen mutiert.

Bald steht Mattes nur mehr in einer hinteren Ecke des Raums, verschränkt die Arme vor der Brust, hebt mal mahnend die Augenbrauen oder kräuselt beleidigt die Lippen. Sein eigenes emotionales Unglück kann dieser Misanthrop nicht fassen. Folgerichtig offenbart Mattes in Lenks Inszenierung vor allem jenen „verliebten Melancholiker“, um den Molière seinen „Menschenfeind“ im Originaltitel ergänzte.

Alceste hat den Glauben an die Menschheit undsich selbst verloren

Untergebracht ist dieser Menschenfeind, und mit ihm alle anderen Figuren, in einem leeren Raum. Mit eng gespannten, flexiblen Seilen ist der Guckkasten ringsum umgeben. Er wirkt wie die Gummizelle einer Heilanstalt und dient der Sicherheit. Weich hängen sich die Darsteller mal in die grauen Seile, geschickt fallen sie durch deren schmale Zwischenräume oder schlängeln sich elegant daran entlang. Physische Verletzungsgefahr besteht nicht an diesem requisitenfreien Ort, den Bühnenbildner Florian Lösche entworfen hat. Hier entstehen die Wunden emotional und verbal. Und vor allem für die Männer dieses Abends.

Da ist etwa Oronte (herrlich komisch: Timo Weisschnur), der seine schlechte Dichtkunst mit wallendem Haar und wohlig kreisenden Hüften auf die Bühne bringt. Selbstbewusst lässt er sich Zeit für poetische Peinlichkeiten, was Alceste kommentiert: „Verschon das Publikum mit deinen Nebentätigkeiten.“ Später wird auch Célimène den schwärmenden Dichter abservieren, genauso wie die ebenfalls um sie buhlenden, kokettierenden Lästermäuler Acaste (Jeremy Mockridge) und Clitandre (Elias Arens). Allein Philinte, Alcestes Freund, bleibt von diesen Launen verschont. Manuel Harder spielt ihn tiefgründig und mit warnenden Worten.

Für alle Männer unerreicht bleibt also diese lebenshungrige Witwe. Anne Lenk – und vor allem die fantastische, alle Anschuldigungen charmant weglächelnde Franziska Machens – macht sie barfuß und mit großer Leichtigkeit zur eigentlichen Protagonistin. Die anderen beiden Frauenfiguren (Lisa Hrdina als offenherzige Éliante und Judith Hofmann als verhärmte, aber stolze Arsinoé) stehen ebenfalls recht emanzipiert im Leben. Lieber sind sie einsam als zweite Wahl. Spielerisch, spöttelnd und unterhaltsam perlt diese Inszenierung durch Moralisches und Menschliches, durch Gedichtetes und Gefühltes. Unbestritten gelingt Anne Lenk ein klug austarierter, kurzweiliger Abend mit grandiosen Schauspielern und rasanten Wortgefechten, dessen einziger Makel darin bestehen mag, dass er in den Wänden seiner eigenen Gummizelle stecken bleibt.

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