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Hinweise auf ein neues Wir-Gefühl

Was kann Gesellschaften der Zukunft eigentlich zusammenhalten? Heinz Bude denkt anregend über den Begriff der Solidarität nach und schreibt gegen die programmatische Leere der Linken an

Anti-Hartz-IV-Demo: Leiden daran, dass die Linke den Begriff der Solidarität emotional verloren hat Foto: Stefan Boness/Ipon

Von Dietmar Süß

Kurt Eisner, der Revolutionär und demokratische Hoffnungsträger, ahnte bereits, dass in den Trümmern der Monarchie etwas Neues entstand. Und so schrieb er kurz vor seinem Tod über das neue Gefühl der Solidarität, das er vielerorts zu erkennen glaubte: „Solidarität ist mehr als das erniedrigende Mitleid, auch mehr als die erhöhende Liebe. Der Begriff ist Baumeister einer ganzen erhabenen Weltordnung.“

Bald danach war Kurt Eisner tot, ermordet durch Feinde der Demokratie. Der Begriff der Solidarität aber blieb – eine Kampf- und Pathosformel, die das neue Selbstbewusstsein der Arbeiterbewegung beschrieb. Sie speiste sich aus Erfahrungen, aus Niederlagen und gewonnenen Schlachten, aus täglicher Arbeit und dem Glauben an eine bessere Welt. Doch mit den Jahren ist aus der kämpferischen Solidarität der alten Arbeiterbewegung eine gefährliche Allerweltsfloskel geworden, politisch entkernt und inflationär verwendet. Selbst die extreme Rechte spricht nun gern von „nationaler Solidarität“, wenn sie den völkischen Umbau des Sozialstaats meint.

Da kommt Heinz Budes Versuch der Ehrenrettung gerade recht. Sein Buch ist mehr funkelnde Idee als systematische Begründung. Und doch ist sein Einwurf ein anregendes Gedankenspiel. Denn dahinter steckt der Versuch einer Antwort auf die Frage, was Gesellschaften der Zukunft eigentlich zusammenhalten könnte. Bude begibt sich auf die weite Reise durch die Begriffsgeschichte der Solidarität: Die Herkunft aus dem römischen Recht, ihre politische Aufladung durch die Französische Revolution, ihre Verwendung durch die Arbeiterbewegung und die moderne Soziologie, insbesondere durch Émile Durkheim. Der französische Soziologe war es, der parallel zur Entstehung einer arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft um 1900 die Verwandlung einer „mechanischen“ Solidarität in eine „organische“ Solidarität beschrieb und darin einen zentralen Integrationsmechanismus moderner Gesellschaften erkannte. Solidarität – das ist eine Vorstellung davon, dass es so etwas wie eine normative Bindung und Verpflichtungen zwischen Menschen und Gruppen zur gegenseitigen Hilfe gibt; eine Hilfe, die zugleich immer auch partikular geprägt ist – gebunden an Nation, Klasse, Religion oder Geschlecht.

Im Solidaritätsbegriff überlagerten sich zentrale säkulare und religiöse Deutungen moderner Gesellschaften, die ihre Ideen gemeinsamer Bindung in das neue institutionelle Gewand des Wohlfahrtstaats kleideten. Bude geht diesen Spuren nach, bisweilen in etwas zu großen Sprüngen, die ihn die kollektiven Erfahrungen der alten Arbeiterbewegung allzu schnell vergessen lassen. Er macht sich für einen Begriff von Solidarität stark, der, wie andere vor ihm, stark die Wechselseitigkeit der Beziehung betont – Solidarität als eine soziale Ressource, die mehr ist als Mitleid oder Barmherzigkeit; die „andere Seite der Gerechtigkeit“, wie das Jürgen Habermas formuliert hat, und die von einer Grundannahme geprägt ist: Nicht vordergründig abstrakte Interessen motivieren Einzelne. Sondern das Gefühl, dass das eigene Leben und das eigene Selbstverständnis abhängig ist von der Beziehung zu anderen, von der Beziehung zur „Welt“. Das „Ich“ begründet die Solidarität.

Darüber wird man streiten können, ob die Idee der Solidarität nicht viel stärker von gemeinsamen Erfahrungen abhängig ist als von der Idee eines autonomen Individuums. Bude fügt der Debatte jedenfalls eine eigene, existenzialistische Wendung hinzu. Seine Diagnose, ganz im Sinne Albert Camus’: „Solidarität ist oft sinnlos fürs Ganze und teuer für mich selbst. Trotzdem bin ich solidarisch, weil ich damit in die Absurdität meines Daseins einwillige und zugleich dagegen rebelliere. […] Der wesentliche Satz zur Sache lautet: Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt.“

Das macht aus der unbequemen Herausforderung solidarischer Praxis dann doch etwas zu viel individualistische Melancholie. Sein Plädoyer für die „alte“ Idee der Solidarität zielt auf ein zu Recht diagnostiziertes politisches Vakuum, das die neoliberalen Stürme der letzten 30 Jahre hinterlassen haben: die Folgen von Aktivierungs- und Selbstoptimierungswahn, marktradikalen Entfesselungen und verschärfter individueller Konkurrenz. Von Gerhard Schröder stammt aus dem Jahr 2001 der schöne Satz: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“ Nun: Das war in der Tat eine bemerkenswerte Formulierung. Denn ganz offenkundig hatte Schröder und mit ihm die Sozialdemokratie eine genaue Vorstellung davon, was Solidarität im 21. Jahrhundert bedeutet. Solidarität – die muss man sich verdienen. Durch Arbeit und Leistung. Die gute Gesellschaft war in dieser Hinsicht eine Gesellschaft starker Einzelner – die Ideologie der „self empowerments“ und „Ich-AGs“.

Es ist gerade die Geschichte der politischen Linken in den 2000er Jahren, an der sich die radikalen Umbrüche in der Vorstellung von Solidarität besonders nachdrücklich ablesen lassen und die derzeit unter einer besonderen Hilflosigkeit leiden, weil sie den einstmals so tragenden Begriff der Solidarität emotional verloren haben. Gleichzeitig beobachtet Bude, dass es vielerorts in den westlichen Gesellschaften den Wunsch gebe, die Folgen der neoliberalen Epoche, die Ausweitung von Ungleichheiten, gesellschaftlichen Spaltungstendenzen wieder zurückzunehmen. Ein neues „Wir-Gefühl“ erkennt Bude, und eine neue Bereitschaft, mit den Fehlern der Vergangenheit zu brechen. Manche Indizien sprechen dafür, das sozialdemokratische Ringen um einen Abschied von „Hartz IV“ beispielsweise. Aber ob die Veränderungen so weit gehen, ist dann doch vielleicht etwas mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Heinz Bude: „Solidarität – die Zukunft einer großen Idee“. Hanser Verlag, München 2019. 176 Seiten, 19 Euro

Bude schreibt jedenfalls mit Verve nicht nur gegen die programmatische Leere der Linken an, sondern grenzt seine Idee von Solidarität scharf von allen Versuchen der extremen Rechten ab, den Solidaritätsbegriff nationalistisch zu kapern. Ohne zu widersprechen, haben die politischen Eliten dem fast unbemerkten Siegeszug der Rede von der „nationalen Solidarität“ zugesehen: ein machtvolles Wortungetüm, das Eindeutigkeit verspricht und doch vor allem auf Ausgrenzung setzt. Solidarität ist eben auch ein gefährliches Wort, weil es immer auch Grenzen markiert.

Dennoch: Kann es so etwas wie eine „Solidarität von rechts“ überhaupt geben? Wohl nur, wenn man den Begriff historisch und politisch vollkommen entleert. Natürlich: Solidarität hat immer auch eine exkludierende Wirkung, und doch zielt der Begriff gerade darauf ab, ihn der radikalen Rechten zu entreißen. Denn in ihm steckt gerade nicht primär die Abschottung, die Enge des Vorgartens, sondern die Erkenntnis, dass menschliches Leben immer in Beziehung zu anderen steht. Es ist eine Welt, die wir mit anderen teilen – ob wir das wollen oder nicht. Es braucht den Anderen, um eine Vorstellung meiner selbst zu erhalten.

Das klingt abstrakt, meint aber doch etwas sehr Einfaches: Solidarität entsteht im Tun für die und mit den Anderen. Sie kostet etwas, und der Preis ist nicht immer klar. Solidarität ist Arbeit, das wussten im Übrigen auch schon die Dritte-Welt-Aktivistinnen und Aktivisten in den 1980er Jahren, als es um den Arbeitseinsatz für die Revolution in Nicaragua ging. Über sie und ihre Tätigkeit wird inzwischen gern einmal die Nase gerümpft. Natürlich: Es war unklar, ob die Arbeit wirklich einen ökonomischen Nutzen hatte. Manche Illusion war bald beendet, und doch gab es, wie es eine Gruppe aus Wiesbaden im Sommer 1986 für sich bilanzierte, die „konkrete Erfahrbarkeit von Solidarität, der wichtige Schritt aus der Anonymität hin zu einem sich Begegnen, zur gegenseitigen Teilhabe.“ Da lag viel Pathos in der Luft, aber eben auch eine konkrete Vorstellung reziproker Solidarität, deren Grundlage die Annahme eines Gleichgewichts emotionaler Bindung bildete.

Solidarität kann Grenzen sprengen. Immer wieder hat in den letzten Jahren Achille Mbembe vor einer Politik vermeintlicher Solidarität gewarnt, die letztlich nur das koloniale Erbe zu verlängern und an den alten Ausbeutungsverhältnissen festzuhalten versuche. Was es stattdessen brauche, so Mbembe, seien neue Solidaritäten, die quer zu den Bündnissen der „alten“ Welt mit ihren Prioritäten stehen. Ob es gelingt, ein „Wir“ der Solidarität aus den zerklüfteten Gesellschaften des Nordens und des Südens zu schaffen, bleibt die zentrale, offene Frage: Das Nachdenken über den Begriff der Solidarität führt über uns hinaus – hinaus in eine verletzte Welt, die in jedem Moment auf uns selber verweist.

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