: „Die Säkularisierung ist nicht das letzte Wort“
Die Hype beim Weltjugendtag in Köln zeigt, dass Pop und Papst etwas gemeinsam haben. Der Katholizismus, der schon immer eine Augenreligion war, hat eine eigene religiöse Eventkultur entwickelt. Steht jetzt eine Rechristianisierung an?
taz: Herr Graf, in Köln sind betende, fröhliche, junge Menschen in Massen zu erleben. Ist das ein neues Phänomen?
Friedrich Wilhelm Graf: Es ist alt und neu. Dies ist ein mediales religiöses Großereignis, das zeigt: Diese römisch-katholische Kirche hat international eine interessante Basis an Jugendlichen, die sich mobilisieren lässt. Insofern erleben wir eine neue Form von öffentlicher Selbstdarstellung dieser Kirche. Andererseits war es schon immer so, dass Pilgerfahrten viele Dinge gleichzeitig miteinander repräsentiert haben: Unterhaltung, Interesse am Neuen, Aufregung, Reisen, ferne Welten kennen lernen – das kommt jetzt alles zusammen. In gewisser Weise erleben wir auch etwas, das es in der Christentums- und Religionsgeschichte immer schon gab.
Und wie erklären Sie sich die Euphorie der jungen Leute für einen alten, eher scheuen deutschen Professor?
Na, ganz so scheu ist dieser deutsche Professor gar nicht – wenn Sie sich etwa die Körpersprache anschauen, dann hat er durchaus Mittel entwickelt, mit denen er mit der Begeisterung ganz geschickt umgeht. Er hat die bemerkenswerte Fähigkeit der Selbstironie. Und sicherlich liegt ein Teil seiner Wirksamkeit darin, dass er seinen Vorgänger nicht zu kopieren sucht, sondern diese Zurückhaltung entwickelt hat und inszeniert. Das ist eine recht kluge Politik, zu sagen: Ich will nichts nachahmen, sondern ich mache meine eigene Präsentation dieses Amtes sichtbar.
Wird dieser Weltjugendtag zu einem religiösen Schub in Deutschland führen?
Das ist schwer zu sagen. Religionskultur hat sich schon immer im Rahmen der allgemeinen Kultur abgespielt. Wir erleben hier eine religiöse Eventkultur. Eines aber kann man mit großer Wahrscheinlichkeit prognostizieren: Die Vorstellung, dass das Christentum eine sterbende Religion ist, lässt sich vielfältig problematisieren. Wir erleben, wie kompliziert die religionskulturellen Verhältnisse hierzulande sind.
Oft kommen in Europa mit Zeitverschiebung kulturelle Entwicklungen an, die vorher in den USA sichtbar wurden. Erreicht uns also das christliche Revival der USA?
Dies mag so sein, aber ich bin vorsichtig. Denn diese Rechristianisierungstendenzen, die neue Konjunktur des Religiösen, die „Wiederkehr der Götter“ oder wie immer Sie das beschreiben wollen, diese Entwicklungen gibt es nicht nur in den USA, sondern viel stärker in Lateinamerika, Asien und Afrika. Deutlich ist: Die europäische Sondergeschichte, die wir immer unter dem Stichwort Säkularisierung diskutiert haben, ist komplizierter. Es gibt sehr viel mehr an religiöser Sehnsucht und Partizipationsbereitschaft in Europa, als wir mit Blick auf die klassischen Krisen des kirchlich-institutionalisierten Christentums zunächst wahrgenommen haben.
Also ist Köln mehr als ein Hype, der ganz schnell wieder verschwinden kann?
Solche Events können Sie ebenso wenig wie die Euphorie bei einer Fußball-Weltmeisterschaft auf Dauer stellen. Aber hier wird sichtbar, dass die katholische Form des Christentums eine für viele Jüngere moderne Form ist. Da zeigt sich keine mittelalterliche Institution, keine, die das Vorgestrige gepachtet hat. Diese Bilder des Katholizismus als etwas Rückständiges, Regressives et cetera sind einfach falsch. Auch greift der Begriff Euphorie zu kurz. Wir haben auch eine Reihe von sehr differenzierten und nüchternen Stimmen bei jüngeren Leuten gehört. Sie tanzen nicht nur alle, sondern sie erleben auch sehr intensiv den tiefen Abstand zwischen ihren Lebenswelten und dem, was diese kirchliche Institution etwa in ihren Symbolen und Morallehren repräsentiert.
Junge Menschen wollen also klare Ansagen – auch wenn sie sich dann nicht unbedingt daran halten?
Sie wollen den Papst sehen, auch wenn sie ihm nicht unbedingt folgen.
Ist das nicht schizophren?
Ach, vielleicht hat der Katholizismus immer so funktioniert.
Kann diese Begeisterung auch in Fundamentalismus umkippen, so wie wir es bei Islamismus sehen, der in Terror endet?
Nein. Es ist ja auch nicht so, dass der Islamismus im Terror endet. Es hat immer Formen gewalttätiger Religionen gegeben – in allen monotheistischen, aber auch in polytheistischen Religionen. Religion und Gewalt haben schon immer eine gewisse Nähe gehabt. Aber wir erleben auch die ungeheuere Differenziertheit der verschiedenen Katholizismen. Natürlich gibt es dort auch fundamentalistische Gruppen, Leute, die einen sehr harten Glauben predigen. Aber Gewalt? Nein. Wir erleben einen starken Moral-Katholizismus, dem bestimmte bindende Werte sehr wichtig sind. Das ist einfach ein Teil des katholischen Spektrums.
Sind Sie – als evangelischer Theologe – neidisch auf die Euphorie, die der Papst auslöst?
Nein. Bei allem hohen Respekt vor der Mobilisierungskraft dieser Institution – die protestantischen oder evangelischen Formen des Christentums, die Kirchen der Reformation, haben immer auf eine Wortkultur gesetzt. Der Protestantismus ist eine Ohrenreligion, keine Augenreligion. Man kann sagen, dass eine Ohrenreligion in medialen Zeiten mit vielen Fernsehbildern nicht besonders attraktiv ist. Aber Sie können nicht um dieser Massenbegeisterung und dieser demonstrativen Sichtbarkeit willen Grundlagen des reformatorischen Christentums in Frage stellen. Der Protestantismus war in dieser Hinsicht immer die sehr viel anspruchsvollere und anstrengendere Form des Christentums.
INTERVIEW: PHILIPP GESSLER