Von Lepra bis Polygamie

Das Alfilm-Festival sorgt seit Jahren für die Sichtbarkeit des arabischen Kinos. Die Filme dieses Jahres sind genauso sozialkritisch wie komisch

Das von Laiendarstellern gespielte Roadmovie „Yomeddine“ wurde 2018 auf dem Filmfestival in Cannes uraufgeführt Foto: Alfilm

Von Fabian Tietke

Eine Mülldeponie und ein wiehernder Esel in Oberägypten. Mit einigen Freunden durchsucht Beshay die Abfälle, stöbert durch Stapel weggeworfener Kassetten und Kopfhörer, während sein Esel Harby am Rande der Deponie wartet. Mit dem Verkauf der Fundstücke bestreitet Beshay seinen Lebensunterhalt. Viel kommt nicht dabei herum. Einen Walkman, den er zwischen den Kassetten gefunden hat, behält er, um ihn seiner Frau ans Krankenbett zu bringen. Er selbst lebt seit einer Lepraerkrankung als Kind in einer Leprakolonie. Die Krankheit ist mittlerweile geheilt, doch die Narben zeugen weiterhin von der stigmatisierenden Erkrankung.

Nach dem Tod seiner Frau macht sich Beshay mit dem Waisenjungen Obama auf die Suche nach seiner Familie. Der Spielfilm „Yomeddine“ („Der jüngste Tag“) des österreichisch-ägyptischen Regisseurs Abu Bakr Shawky wurde ausschließlich mit Laienschauspielern gedreht. Er ist eine ziemlich süßliche Wahl als Eröffnungsfilm für die diesjährige zehnte Ausgabe von Alfilm, dem arabischen Filmfestival in Berlin. Aber vermutlich ist das der Stimmung für eine Eröffnung zuträglich.

Auch in diesem Jahr nimmt die ägyptische Spielfilmproduktion eine zentrale Stelle im Programm des Festivals ein. Zu recht. Schon die kontinuierliche Präsentation der Filme Ahmad Abdallas ist ein großes Verdienst von Alfilm. Sein neuester Film „EXT./Night“ zeigt eine Nacht in Kairo: Drei Personen – ein Regisseur, ein Taxifahrer, eine Prostituierte – treffen aufeinander, fahren gemeinsam im Taxi durch die Nacht, feiern, trinken, nehmen Drogen, werden schließlich verhaftet und kommen wieder frei.

Abdallas Film gibt einen Einblick in soziale Beziehungen in der ägyptischen Hauptstadt, vor allem in Schichten und Milieus, die nur selten aufeinander treffen. Wie in dem Vorgänger „Décor“ erweist sich der Regisseur in „EXT./Night“ als großartiger Regisseur für interessante Frauenfiguren. Vor allem aber wirkt Abdalla wie gelöst. „EXT./Night“ entstand recht schnell, nachdem der Regisseur für die eigentlich geplante Zombiekomödie „Zombie Gozombie“ keine Förderung bekam.

Unter den Dokumentarfilmen stechen die libanesischen Produktionen hervor. Ghassan Halwani geht in „Erased, Ascent of the Invisible“ auf die Suche nach einem Mann, der in den Wirren des libanesischen Bürgerkriegs entführt wurde und seitdem verschwunden ist. Zu Beginn lässt er sich von einem Fotografen ein Foto beschreiben, das die Entführung zeigt. Bei der Spurensuche verlegt sich Halwani auf künstlerische Methoden der Rekonstruktion wie Zeichnungen und das Abschaben der Farbschichten einer Wand.

„Die Personen, die in diesem Film auftauchen, werden nur für die Dauer der Vorführung sichtbar. Wenn der Film zu Ende ist, fallen sie wieder zurück in die Unsichtbarkeit. Sie warten schweigend unter dem Gewirbel des Alltags“, heißt es zu Beginn des Films. „Erased, Ascent of the Invisible“ ist ein Blick zurück in eine Zeit, der bis heute nur mit Schweigen gedacht wird, weil die Konfliktlinien bis heute zu präsent scheinen.

Die Sounddesignerin Rana Eid spürt diesem Fortwirken des Bürgerkriegs der 1980er Jahre in die Gegenwart in ihrem Film „Panoptic“ nach. In einem gelesenen Brief, gerichtet an den Vater der Regisseurin, denkt Eid zu Bildern des Libanons der Gegenwart über ihr Aufwachsen im Libanon jener Jahre nach.

Wie Halwani sucht Eid nach Bildern für etwas nur Erzählbares. „Panoptic“ ist über weite Strecken in ruhigen, nachdenklichen Bildern gehalten. Die Bilder der schreiend-patriotischen Feier, die die libanesische Armee für sich selbst ausrichtet, wirken inmitten des melancholischen Films umso mehr wie ein Fremdkörper.

Eine kleine Entdeckung ist die schwarze Komödie „Amra and the Second Marriage“ aus Saudi-Arabien. Regisseur Mahmoud Sabbagh zeigt seine Protagonistin im Kampf gegen die Pläne ihres Ehemanns, eine Zweitfrau zu nehmen, nachdem sie ihm Jahre lang als Partnerin zur Seite stand.

Auch in der zehnten Ausgabe hat die Präsentation von Kino aus dem arabischen Raum in Berlin noch immer etwas von Pionierarbeit. Seit es besteht, hat Alfilm fast im Alleingang dafür gesorgt, dass dieses Kino in Berlin nicht länger unsichtbar ist. Im Rückblick ist es eigentlich unvorstellbar, dass es lange Jahre kein arabisches Filmfestival in Berlin gab. Die zehn Ausgaben haben es ermöglicht, etliche Wandlungen, Trends und viele neue Namen des arabischen Kinos wahrzunehmen. Kein schlechtes Verdienst. Happy Birthday, Alfilm.

Alfilm – Arabisches Filmfestival Berlin: verschiedene Kinos (Arsenal, City-Kino Wedding, Wolf), 3. – 10. 4., Eröffnung 3. 4. um 19 Uhr im Arsenal, Festivalpass 55 €, Einzelfilme 9,40 €, Informationen zum Programm: www.alfilm.berlin/programm/