Halber Schuldspruch

VON ASTRID GEISLER

Es war eine kurze Rückkehr in die Freiheit: Rund 16 Monate nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft schlossen sich für Mounir al-Motassadeq gestern in Hamburg wieder die Handschellen. Im neu aufgerollten Prozess um die Terroranschläge vom 11. September 2001 verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) den Marokkaner zu sieben Jahren Haft.

Die Begründung: Der 31-Jährige sei Mitglied der Terrorzelle um den Todespiloten Mohammed Atta gewesen. Allerdings sprachen die Richter Motassadeq frei vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord an mehr als 3.000 Menschen. Eine Entscheidung, die – zumindest auf den ersten Blick – paradox erscheint: Wer einer relativ kleinen Terrorzelle angehört, den Komplizen wiederholt den Rücken freihält, während diese einen gigantischen Anschlag vorbereiten, wer Generalvollmachten hat, Konten verwaltet, sich um die Post kümmert, Semestergebühren überweist – müsste der nicht auch eingeweiht sein in die Pläne der Freunde? Das Hamburger Gericht urteilte: Nicht unbedingt.

Die monatelange Befragung von mehr als 100 Zeugen habe erwiesen, dass Motassadeq zu der Zelle gehört habe, argumentierte der Vorsitzende Richter Ernst-Rainer Schudt. Die Clique um Atta sei über die Zeit „zur Sekte“ geworden – und Motassadeq habe sich wie die Glaubensbrüder radikalisiert. Dafür spreche auch seine Reise in ein afghanisches Al-Qaida-Trainingscamp, denn ohne Bereitschaft zum heiligen Krieg fahre niemand dorthin.

Allerdings war der Marokkaner nach Ansicht des OLG in der Hamburger Zelle „eher Mitläufer“, als „Gesinnungsgenosse“ zuständig für Organisations- und Verwaltungsaufgaben, zum „ganz harten Kern“ zählte er nicht. Denn die Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe beweise nicht zwingend die Beihilfe zum Mord, so Schudt: „Der Angeklagte hat persönlich keine Schuld am Tod der Opfer.“ Er sei wohl auch nicht als Attentäter in Frage gekommen – weil man ihn für zu weich befunden habe.

Anders als die Verteidigung sah das OLG den Angeklagten nicht entlastet durch die Aussagen des mutmaßlichen Cheflogistikers der Anschläge, Ramzi Binalshibh, den die USA an geheimem Ort festhalten. Washington hatte sich geweigert, Binalshibh als Zeugen zur Verfügung zu stellen oder wenigstens ausführliche Verhörprotokolle zu übermitteln. Stattdessen wurde das Gericht mit kurzen Resümees von Verhören abgespeist – laut Schudt „ein Trauerspiel“: Wie solle das Gericht seinen Auftrag erfüllen, wenn ihm „wichtige Dokumente vorenthalten“ würden? Laut den US-Papieren versicherte Binalshibh, Motassadeq habe nicht zur Terrorzelle gehört. Nach Ansicht der Richter haben diese Unterlagen jedoch keine ausreichende Beweiskraft. Schließlich sei völlig unklar, wie sie zustande gekommen seien – im „netten Gespräch“ oder unter Folter.

Die Bundesanwaltschaft hatte bis zuletzt gefordert, den Marokkaner als wissenden Komplizen der Attentäter erneut zur Höchststrafe von 15 Jahren Haft zu verurteilen – so wie Anfang 2003 im ersten Verfahren vor dem OLG. Diese Entscheidung hatte der Bundesgerichtshof (BGH) im Revisionsverfahren aufgehoben und den Fall zurückverwiesen.

Nach einer Serie juristischer Niederlagen der Ankläger feierte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) selbst den Teilschuldspruch für Motassadeq gestern als „klares Zeichen“ im Kampf gegen den Terrorismus und „Ermutigung für die Sicherheitsbehörden“.

Wie lange Motassadeq diesmal inhaftiert bleibt, ist jedoch offen. Denn Verteidigung wie Bundesanwaltschaft kündigten an, auch das jüngste Urteil vor dem BGH anzufechten. Und der hatte erst im Juni im zweiten Prozess um den 11. September zugunsten des Angeklagten entschieden: Er sprach Motassadeqs Landsmann Abdelghani Mzoudi in allen Punkten frei.

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