: Nichts geht verloren
Alte Aktionistentricks, neue Mythologie und vier Drehbühnen: Im Wald von Neuhardenberg hat Christoph Schlingensief „Odins Parsipark“ aufgebaut
VON EVA BEHRENDT
Der deutsche Wald riecht würzig, ein paar Fledermäuse schießen durch die Sommerabendluft. Der aufgehende Vollmond gießt milchiges Licht über die grasbewachsenen Flugzeughangars, deren Pforten so aussehen, als fange dahinter die Unterwelt an. Doch der Schein der Idylle trügt. Im Wald von Neuhardenberg ist die Kunst ausgebrochen.
In den Schuppen und Scheunen am Rande des ehemaligen NVA-Flughafens wird zu Wagnerklängen der Gral bewacht und ein Fisch-Hase verehrt, die Mondlandung gedreht und Demokratie vernichtet, ein Huhn nach Afrika verschickt und der Hitler-Stalin-Porno dann doch nicht gezeigt. Adorno definiert vom Lagerhochsitz herab knarzend den Kapitalismus, Adriano Celentano plärrt gegenüber „Azzuro“, und natürlich irrt Hitler persönlich durchs kunsthungrige Publikum von „Odins Parsipark“. Nachdem in den vergangenen Jahren der Schauspieler Martin Wuttke für die Stiftung Neuhardenberg mit gehobenem Sommertheater die Berliner Saison einleitete, lädt dieses Jahr Christoph Schlingensief in den Voodoozauberzoo seiner „modernen Mythologie“.
Die Provo-Batterie sei alle, hat Christoph Schlingensief kürzlich in einem Interview mit der Welt gestanden, er sei schließlich auch schon Mitte vierzig. Tatsächlich hat der Regisseur in den vergangenen Jahren seine Aktionskunst immer deutlicher aus den populären und medialen Formaten wie Talkshow, Wahlkampf oder Fernsehen zurückgezogen. Dabei kam ihm der traditionsreiche Kunstbetrieb entgegen: Die Biennale in Venedig bat ihn 2003 um einen Beitrag, Bayreuth engagierte ihn letztes Jahr für den „Parsifal“. Schlingensief sorgt dafür, dass trotzdem alles mit allem zusammenhängt.
Das Labyrinth seines lärmenden Synkretismus, in dem afrikanisches Schamanentum, germanische Sagenmotive, asiatische Glaubensrituale, die Wiener Aktionisten und sehr viel deutscher Idealismus vor sich hin wuchern dürfen, ist eindrucksvoll gewachsen. Schon die Lageplangrafik des „Parsiparks“ überfordert, obwohl der Künstler mit Zeigestock und Megaphon erläutert: „Das Kunstwerk ist die Umgebung und die Umgebung das Kunstwerk.“ Wer hieraus noch immer Ironie hören will, muss ein hoffnungsloser Veteran der Spaßgesellschaft sein. Patti Smith jedenfalls, die beim Bayreuther „Parsifal“ für „Christophs Hasen“ entflammt und nun eigens nach Neuhardenberg gereist ist, meint es ernst, wenn sie dazu auffordert, sich dem Werk mit „full mental capacity and the heart of child“ zu nähern.
Beides zugleich ist nicht ganz leicht. Der „Bluthase“ im Parsifaltrakt mit den auf die Ohren gesteckten stinkenden Fischköpfen oder der Gral im Spiegelschrein, zwischen Ingwerwurzel, Osterhasenfell und Knoblauchknolle küchenfertig angerichtet, sind tatsächlich wie Schätze, die man auf der Schnitzeljagd durch die Geisterbahn entdeckt. Dazu wimmelt es von Überbau: Schließlich will Schlingensief hier, wie im Programmheft erläutert, „zu einer animierten Realität, einer wirklichen Kunst“ vorstoßen, und das ausgerechnet mit einer Erfindung des 19. Jahrhunderts: der guten alten Drehbühne: „der Animatograph“.
Gleich vier Stück hat der Künstler mit Bildschirmen, Kulissenteilen aus „Parsifal“ oder lokalen Fundstücken wie einer NVA-Druckluftkammer aufgemotzt und übers Gelände verteilt. Mit Parolen bemalt und von Videoprojektionsschichten übergossen, erinnern die rechtsdrehenden Scheiben an Schlingensiefs jüngste Bühnenbilder. Hier jedoch dürfen die Besucher leibhaftig auf den Kunstkarussells herumstehen und mit ihren Handys digitale Fotos schießen. Deshalb, so Schlingensief, sei der Animatograph „ein Organismus“ und keine seelenlose Maschinerie wie zum Beispiel der Staat, deshalb winke hier „das Ende des wohltemperierten Theaters und der Beginn der animatographischen Befreiungspolitik“. Das Volk besteigt Schlingensiefs neue Mythenmaschine, und die Idee von der Kunstreligion hebt doch noch ab?
Da konzentriert man sich doch lieber auf eine andere frohe Botschaft des Waldspektakels. Die lautet: Nichts geht verloren. Nicht das Ensemble aus Freaks und Behinderten, nicht der alarmierende Gestus des Megafons, nicht die Beschwörung prominenter Gespenster von Joseph Beuys bis Josef Stalin. Geschweige denn die Wäschespinne oder die isländische Erdspalte. Und wenn Schlingensiefs Werk wirklich so konsequent akkumulativ und wahllos weltumarmend gedacht ist, wie es sich hier wieder gibt, dann ist darin gerade neben Richard Wagner noch viel, viel Platz.