: Folkloretänze werden Folterreigen
ZEITGESCHICHTE Alexander Borodins groß angelegtes Machtepos, die Oper „Fürst Igor“, gerät an der Hamburger Staatsoper zur grellen Parabel auf sowjetische und postsowjetische Zustände
Eigentlich hat man den ganzen Abend darauf gewartet, dass das passiert. Ganz am Ende springen dann tatsächlich drei junge Frauen auf die Bühne: in bunten, engen Kleidern, mit Strumpfmasken, einer hängt eine Gitarre um den Hals – Russlands aktuelle Ikonen des Putin-Protests. Und das Volk hält ein Banner hoch: „Free Pussy Riot.“
Damit schlägt David Pountney in seiner Inszenierung von Alexander Borodins monumentalem Machtepos, das jetzt den Saisonauftakt an der Hamburgischen Staatsoper bestritt, den Bogen bis in die Gegenwart – gemäß seinem Regie-Konzept, das Stück durch verschiedene russische Epochen zu schicken.
Alexander Borodin arbeitete seinerzeit 18 Jahre an seiner einzigen Oper „Fürst Igor“. Als er 1887 plötzlich starb, war das Werk unvollendet. Auf Grundlage von Skizzen ergänzten seine Freunde Nikolai Rimski-Korsakow und Alexander Glasunov dann die Partitur. Sie komponierten sogar Stücke dazu und berücksichtigten manche Entwürfe Borodins gar nicht. Erst 1949 sorgte der Musikwissenschaftler Pawel Lamm für eine Fassung, die alle Materialien einbezog.
Hamburgs Generalmusikdirektorin Simone Young hat jetzt gemeinsam mit David Pountney eine Version entwickelt, die vor allem die bisherige Dramaturgie ändert: Nach dem Prolog geht es gleich ins Lager der Polowetzer, in den bisherigen zweiten Akt.
Die Geschichte vom Feldzug des Fürsten Igor gegen die Polowetzer geht auf das Igor-Lied zurück – ein Epos, vergleichbar mit dem deutschen Nibelungenlied. Das Igor-Lied handelt vom 1185 unternommenen Feldzug des russischen Fürsten Igor Swjatoslawitsch gegen die Polowetzer.Fürst Igor scheitert darin auf ganzer Linie: Sein Heer wird vernichtet und der Polowetzer Herrscher, der Khan Kontschak, demütigt seine Gefangenen. In der Hamburger Neuproduktion verwandeln sich insbesondere die Polowetzer Tänze, ansonsten eine echte Wunschkonzert-Nummer, in eine Folter-Choreographie. Kontschaks Handlanger zwingen die russischen Kriegsgefangenen mit Peitschen zum Tanzen.
Überhaupt zeigt Pountney vom Krieg verrohte Männer: So verbreitet Fürst Igors Schwager Angst und Schrecken, indem er Frauen vergewaltigt und tötet. Und das vor Sowjet-Kulisse mit Hammer-und-Sichel-Emblem und schäbigem Plattenbau grau in grau. Im dritten Akt trainieren die Polowetzer schließlich wie heutige Terroristen mit Sturmmasken und Maschinengewehren für ihren nächsten Einsatz.
Wohin Pountneys Zeitreise auch geht, Fürst Igor bleibt in grauer Hose und grauem Hemd immer der Gleiche, meistens hockt er an einem Kader-Schreibtisch. Als er zum Schluss zurück nach Russland flieht, legt er sich auf einem solchen Schreibtisch nieder. Und das Volk errichtet ihm, dem Verlierer, ein pompöses goldenes Denkmal.
Auch wenn die Inszenierung des britischen Regisseurs mehr psychologische Personenführung vertragen hätte – zu ihren Stärken gehört, dass sie historische Konstanten von Macht und Gewalt in einem plakativ-grellen Bilderbogen aufzeigt. Bis eben hin zum Pussy-Riot-Auftritt.
Mit dieser Schlusspointe hat Pountney seine Inszenierung aktualisiert, die im April in Zürich ihre eigentliche Premiere erlebt hat. Die Koproduktion mit den Kollegen in der Schweiz ermöglicht der Staatsoper Hamburg, diese monumentale, knapp dreieinhalbstündige Oper zu zeigen.
Das Gesangsensemble ist gut besetzt; insbesondere Andrzej Dobber überzeugt als Fürst Igor. Und auch wenn die Philharmoniker manchmal die Sänger überdecken: Insgesamt entfesseln Dirigentin Simone Young und ihre Musiker die ästhetische Kraft von Borodins Oper, die volks und kirchenmusikalische Nummern mit westeuropäischen Kompositionsweisen verbindet. Seien es die vielen Klangfarben, speziell die der Polowetzer Stücke, sei es die Wucht der großen Chorszenen oder die gelungene psychologische Innenschau der Figuren: Der Abend macht Lust auf mehr Borodin. DAGMAR PENZLIN