: Der gerahmte Blick
Späte Entdeckung: Der britische Maler Adrian Morris war vom Fotojournalismus fasziniert, insbesondere von Luft- und Architekturaufnahmen. In der Galerie Neu ist ihm jetzt eine Ausstellung gewidmet
Von Brigitte Werneburg
Ein etwas verfrühtes Venedig-Gefühl von Gehen auf schwankendem Boden stellt sich in der Galerie Neu ein, wo Tenzing Barshee eine Ausstellung mit Gemälden von Adrian Morris (1929–2004) kuratiert hat. Denn ein bevorzugtes Motiv in Morris’ Bildern ist der Blick durch eine Art Bullauge auf den Horizont. Und weil der von Bild zu Bild in verschiedenen Höhen sichtbar wird, erlebt man – zugespitzt gesagt – so etwas wie einen leichten Seegang. Oder anders ausgedrückt: Morris’ Abstraktionen charakterisiert eine ungeheure Lebendigkeit – und dabei sind sie mit geradezu bestürzender Sorgfalt gemalt.
Daher fällt es leicht, sich in ihnen zu verlieren, obwohl es gar nicht so viel zu sehen gibt. Exquisite Farben, ein wundervolles Lachsrot kombiniert mit einem sandigen Rosaton und einem hellen Hellblau. Und eben immer wieder dieser gerahmte Blick, mal eher mit der Anmutung eines Gebäudefensters wie bei „The Earth II“ (1976), mal mit der eines Flugzeugfensters wie bei „The Earth III“ (1970er) oder eben eines Bullauges wie bei „Distant Landscape“ (1975). Dazu kommen Bilder, die an Luftaufnahmen erinnern, mit ihren geometrischen Linienstrukturen. „Grid through Port“ (undatiert) etwa zeigt wieder diesen Blick durch eine runde Öffnung auf eine Art Wegesystem.
In der Art, wie Adrian Morris sein reduziertes Zusammenspiel von Farbe, opakem Farbauftrag und geometrisch-flächigen Formen immer als einen durch die technoide Form eines gerundeten Fensters als „Blick auf …“ organisiert, wird deutlich, dass er in seinen Bildern Themen der Gegenwart verhandelt. Tatsächlich erweist sich „Distant Landscape“ als eine Art Palimpsest. Denn wie das Foto in der kleinen Vitrine im Ausstellungsraum zeigt, taucht in einer frühen Fassung des Gemäldes vor dem Horizont im Rund noch die Figur eines ausgemergelten Flüchtlings auf, der später übermalt wurde.
Nicht zuletzt in diesem untergründigen Motiv, das bis heute die gesellschaftspolitische Tagesordnung bestimmt, zeigt sich die Aktualität des in London geborenen Malers, der in den USA aufwuchs und 1947 nach Großbritannien zurückkehrte. Sein großes Thema war die Moderne. Sie war zwar fulminant gescheitert, als er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann, sich künstlerisch mit ihr auseinanderzusetzen. Trotzdem wurde weitergemacht, als ob nichts geschehen wäre. Man baut Atomkraftwerke, fliegt in nie gekanntem Ausmaß um die Erde und schließlich zum Mond. Und man führt weiter Krieg in Vietnam.
Diese Umtriebe interessierten Morris, das zeigt das Archiv seiner Recherchen. Wie Jackson Pollock war er vom Fotojournalismus fasziniert, insbesondere von Luft- und Architekturaufnahmen. Aufsichten auf Bewässerungssysteme geben seinen Bildern ihre Titel wie bei „Irrigation Trench“ (1966) oder „Irrigation Ditch“ (1967/68), aber auch Arbeits- und Flüchtlingslager wie etwa „Compound“ (undatiert) und der Krieg, wie ihn Don McCullin fotografiert, bilden die in den flächigen Geometrien und Linienstrukturen verdeckten und versteckten Motive seiner Abstraktionen. Seine Bilder wollten den durch diese Aufnahmen hinterlassenen Eindruck in malerischer Form festhalten, als pigmentgesättigte Reflexion.
In der kleinen Vitrine sind neben Fotos von Adrian Morris auch ein paar kleine Schildkröten zu sehen und ein Ausstellungskatalog der Hayward Gallery von 1978. Die Schildkröten schenkte ihm seine Frau, ein liebvoll-ironischer Wink mit dem Zaunpfahl, denn Morris malte sehr langsam, vor allem aber nahm er sich seine Bilder immer wieder vor. Es konnte Jahrzehnte dauern, bis er ein Bild als abgeschlossen betrachtete. Insofern wundert es nicht, dass der Katalog Dokument seiner einzigen institutionellen Ausstellung zu Lebzeiten war.
Nach seinem Tod gab es verschiedene von Künstlern organisierte Ausstellungen in Projekträumen in Glasgow und London. Dass Adrian Morris ein artist’s artist ist, versteht sich fast von selbst, so präsent und physisch anwesend, wie seine Bilder sind; und wie singulär sein Werk ist, das nicht wirklich den zeitgenössischen Strömungen zugeordnet werden kann. Dass es nun zum ersten Mal außerhalb des Vereinigten Königreichs gezeigt wird, ist ein Glück. Auch weil man fürchten muss, mit dem Brexit könnten die riskanteren Unternehmungen wechselseitigen Austauschs um einiges unwahrscheinlicher werden.
Bis 13. April, Galerie Neu, Di.–Sa. 11–18 Uhr
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