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Isolde Charim Knapp überm BoulevardDer Verlust des Glaubens an die Handlungsfähigkeit

Der Fall Relotius sei, sagte der Psychiater Joachim Bauer kürzlich, nicht als Einzelfall zu werten, sondern vielmehr als Symptom. Als Symptom für Medien, die nur noch das Scheitern von Politik beschreiben würden. Deshalb soll es hier nicht um den Fall des realitätsunabhängigen Journalisten gehen, sondern um solche Narrative des Untergangs, die – so der Psychiater – den Populismus befeuern. Denn alle Arten von Dystopien, von negativen Zukunftsvorstellungen also, würden das populistische Geschäft befördern: Sie würden den Niedergang des demokratischen Systems aus einer Kampfansage in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung verwandeln.

Wenn Untergangsszenarien ein politisches Mittel sind, das gezielt oder ungewollt eingesetzt wird, dann erklärt das aber noch nicht, warum wir heute eher geneigt sind, Dystopien zu glauben als Utopien.

Vorstellungen einer düsteren Zukunft liegen schon lange bereit. Vorgeformt durch das Genre der Science Fiction (ob „1984“, „Blade Runner“ oder „Matrix“). Hier wurden jene Dystopien ausgemalt, in denen wir uns heute angelangt meinen. Gefühlt ist unsere Gegenwart das, was dort noch gruselige Zukunft war. Dar­über hinaus aber sind die Vorstellungen von Linken und Rechten, was überhaupt dystopisch sei, nicht nur unterschiedlich, sondern geradezu spiegelbildlich.

Zur Jahreswende hat die Zeit Politiker aller Couleur gefragt, wie sie sich die Welt in fünfzig Jahren vorstellen. Die Befragten nennen oft dieselben Themen, verbuchen sie aber – je nach politischer Ausrichtung – in der entgegengesetzten Rubrik: Nicht nur Migration, sondern auch EU, Bildung, öffentlich-rechtlicher Rundfunk – die Zuordnungen, was positive und was negative Zukunftsszenarien wären, sind exakt diametral.

Wie aber steht es um konkrete Utopien? Diese sind heute asymmetrisch verteilt. Denn Rechte haben eine. Ihre Form der Utopie ist bekanntlich das, was Zygmunt Bauman „Retrotopia“ genannt hat – eine rückwärtsgewandte Nostalgie für ein utopisches „Früher“.

Und die Linke? Sie hat heute keine konkreten Utopien anzubieten. Das allein wäre – entgegen einem verbreiteten Lamento – aber gar kein Schaden. Es scheint wichtig, das festzuhalten. Allem konkreten Ausmalen einer idealen Gesellschaft haftet immer etwas Schales an. Dieses Schale rührt daher, dass Idealgesellschaften immer als konfliktfrei imaginiert werden, und das ist schon als Vorstellung steril. Nein, das Problem der Linken liegt anderswo: Es liegt nicht darin, dass sie keine Utopien mehr hat, sondern warum.

Die Linke ist im Schock einer Gegenwart gefangen, in der alles einer unerschütterlichen Notwendigkeit zu folgen scheint: Die Ökonomie und die Verhältnisse, die sie etabliert, folgen den eisernen Gesetzen des Marktes – die Politik der scheinbar unaufhaltsamen Übernahme durch Populisten. Sie hat sich einer Gegenwart ergeben, die sie als alternativlos erlebt. Und genau das killt jedes utopische Moment.

Es geht nicht um einen Verlust von Vorstellungen, sondern um den Verlust des Glaubens an die eigene Handlungsfähigkeit. Es ist dies eine Ohnmacht, die zugleich vereinzelt. Und eine Vereinzelung, die zugleich ohnmächtig macht. Ein Teufelskreis in Zeiten, wo die Leidenschaften für alles, was uns trennt, glühen, wie Tristan Garcia schreibt.

Vielleicht kommt das Ausliefern an die Dystopie aber auch aus einem Missverständnis von dem, was Utopie ist. Denn das utopische Moment kommt nicht aus der Vorstellung einer guten Welt oder aus der Fantasie einer idealen Gesellschaft. Das utopische Potenzial ist eher ein Aufbruchs- als ein Zukunftsgefühl. Ein solches kann durchaus auch Energien aus der Abwehr von Dystopien, aus der Abgrenzung gegen ein schlechtes Bestehendes oder ein bedrohtes Morgen gewinnen.

Utopie beginnt dort, wo Notwendigkeiten nicht mehr als Gesetzmäßigkeiten verstanden, wo sie infrage gestellt werden. Utopie ist nicht das Morgen, das wir uns heute ausmalen. Utopie ist vielmehr die Zukunft, die in die Gegenwart einbricht.

Die Autorin ist freie Publizistin in Wien

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