: Europäische Fluchtgeschichte(n)
Warum es sich in Zeiten globaler Migrationsbewegungen lohnt, auf die Hugenotten zurückzublicken, erklärt der Historiker Alexander Schunka im Interview und auf dem taz lab
Interview Vincent Bruckmann
taz am Wochenende: Herr Schunka, in Ihrem Buch reden Sie von „der bedeutendste Migrantenruppe der Vormoderne“. Wer waren die Hugenotten?
Alexander Schunka: Die Hugenotten sind die Protestanten Frankreichs. Dort hat es auch eine Reformation gegeben, aber anders als in Deutschland: In Frankreich sind seit dem 16. Jahrhundert die protestantischen Bewohner und Bewohnerinnen immer stärker unter Druck geraten. Viele haben sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zur Emigration in die Nachbarländer entschlossen. Man geht von etwa 200.000 Migranten aus, die sich damals über Europa verteilt haben.
Was ist das Europäische an der Fluchtgeschichte der Hugenotten?
An den Hugenotten sehen wir: Migration ist nicht allein ein aktuelles Phänomen. Migranten und Migrantinnen haben bestimmte Wünsche, Probleme, Ansprüche, Erwartungen – Aufnahmegesellschaften auch. Die Hugenotten sind nicht überall willkommen gewesen. Außerdem handelt es sich hier um eine grenzüberschreitende Diaspora in unterschiedlichen europäischen Ländern und auch über Europa hinaus.
Was erhofften sich die Aufnahmeländer und die Hugenotten voneinander?
Die Geschichte der Hugenotten ist voller Mythen. Zum Beispiel, dass es sich um standhafte Protestanten gehandelt hat, die bei Nacht und Nebel, Frankreich entfliehen mussten und dann von toleranten Fürsten aufgenommen wurden, die von dem wirtschaftlichen Know-how der Hugenotten profitiert hätten. Aber es ist alles ein bisschen komplizierter. Jede Seite hatte bestimmte Interessen. Der Kurfürst von Brandenburg zum Beispiel hatte die Absicht, nach dem Dreißigjährigen Krieg sein verwüstetes Land zu bevölkern und seine Konfession gegenüber den vielen Lutheranern in der Bevölkerung zu stärken. Damit wollte er sich auch international als Schützer der Protestanten darstellen.
Haben sich die Erwartungen erfüllt?
Der Kurfürst Brandenburg-Preußens hat nicht nur die wirtschaftlich potenten Zuwanderer bekommen, die er sich erhofft hat. Ein großes Problem in der Hugenotten-Forschung wie auch heute: Migration wird sehr oft nach Nutzen und Schaden klassifiziert. Das heißt, dass man Migrantinnen und Migranten in nützlich und weniger nützliche einteilt.
Wie muss man sich die Flucht der Hugenotten vorstellen?
Bei Flucht denkt man an etwas Plötzliches, aus einer existentiellen Notsituation heraus. Bei den Hugenotten gab es das auch. Aber ebenso, ohne die Schrecken dieser Migration kleinzureden, gab es sehr genau geplante Umsiedlungen: an Orte mit denen die Hugenotten bereits Kontakt gehabt hatten.
Heute treiben Flüchtlinge wochenlang auf dem Mittelmeer, weil kein EU-Land seinen Hafen für sie öffnen möchte. Gibt es vergleichbare Fälle bei den Hugenotten?
Alexander Schunka Jahrgang 1972, ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der FU Berlin. Am 14. März erscheint sein Buch „Die Hugenotten“ bei C.H.Beck.
Es gibt zahlreiche Fälle von Entwurzelung. Leute, die über Jahre von Almosen gelebt haben, die es nicht geschafft haben, sich irgendwo anzusiedeln. Vielleicht auch, weil sie nicht in das Schema der „nützlichen“ Migranten gepasst haben.
Welchen Einfluss hatten die Hugenotten auf die Aufnahmegesellschaften?
Die Berliner Aufklärung, zum Beispiel, das was Berlin im 18. Jahrhundert groß gemacht hat, wäre ohne die Hugenotten und deren internationale Kontakte kaum denkbar gewesen. Und auch politisch oder wirtschaftlich waren viele Hugenotten aktiv.
Warum sollten sich auch Nichthistoriker mit den Hugenotten befassen?
Um die aufgeheizten Diskussionen über das Für und Wider von Zuwanderung, über den „Nutzen“ von Migration, etwas zu erden. Wenn man sich klarmacht, dass es bestimmte Mechanismen von Migration, von Aufnahme, von Lebensbewältigung an Zuwanderungsorten oder von Ängsten der aufnehmenden Bevölkerung schon zu anderen Zeiten gegeben hat. Daraus muss man das Beste machen, denn Migration ist etwas, mit dem wir uns alle auseinandersetzen müssen – heute genauso, wie man es in der Vergangenheit getan hat.
Auf dem taz lab spricht Alexander Schunka über die Fluchtgeschichte der Hugenotten.
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