: Hotel der Zombies
Vom Leiden verlorener Seelen: Das Theater Osnabrück zieht mit „Rosa und Karl“ ein gelungenes Drama aus Alfred Döblins Roman „November 1918. Eine deutsche Revolution“
Von Harff-Peter Schönherr
Tiefe Schwärze. In ihr Schritte, direkt auf uns zu. Licht flammt auf, blendend grell. Vor ihm, wie zerfasert, geisterhafte Silhouetten. Ein blutroter Pfeil befiehlt uns hinein in einen blutroten Trichter. Eine Stimme sagt: „Ich liebe die Toten.“
Erst wenige Augenblicke von „Rosa und Karl“ sind vergangen, und schon ist dennoch klar: Die junge Regisseurin Sophia Barthelmes wird den Schlussband der monumentalen Roman-Tetralogie „November 1918. Eine deutsche Revolution“ von Alfred Döblin mit Klugheit und Mut meistern. Ernst Wiese, mit dem sie nicht nur in Osnabrück eine Kooperative bildet, assistiert ihr dabei.
Wir sind im „Hotel Eden“. Und das ist nicht nur das Hotel in Berlin, in dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 vor ihrer Ermordung verhört und gefoltert werden, denn „Rosa und Karl“ ist keine Geschichtsstunde. Barthelmes öffnet uns zugleich das wirkliche Paradies, und mit ihm die tiefsten Abgründe der Hölle. Satan heißt uns willkommen, in blutroter Uniform, mit blutroten Lippen. Und von allen, denen wir begegnen, leben nur noch ihre Gedanken – Gedanken, die um die Freiheit kreisen, das Böse, das Scheitern der Sehnsucht nach dem Besseren.
Die Radikalität, mit der Barthelmes Döblins obsessives, fast bis zur Unlesbarkeit ausuferndes Zeitgemälde zusammenstreicht, neu ordnet, collagiert, ist herausfordernd: Symbolik öffnet uns die Augen, Surrealität. „November 1918“, 2.500 Seiten lang, zwischen 1937 und 1943 im Exil entstanden, eine Großchronik über Militärs und Politiker, über die Verlorenen ganzer Generationen, mag einer der treffendsten Belege dafür sein, wie Recht Thomas Mann hat, wenn er sagt: „Es gibt sehr wenige Leute, die Döblins Bücher zu Ende lesen können.“ Allein der letzte Band, „Karl und Rosa“ hat fast 800 Seiten.
Vier druckvolle Stunden hatte Regisseurin Alice Buddeberg 2013 am Theater Bonn zu Döblins jahrzehntelang als unverlegbar geltendem „November 1918“ auf die Bühne gewuchtet, Einar Schleef 2000 am Deutschen Theater Berlin gar fünf. Barthelmes hingegen setzt auf eine Miniatur. Was sie und Dramaturgin Marie Senf als Osnabrücker Bühnenfassung „Rosa und Karl“ aus ihm extrahieren, hat Kraft.
Knapp anderthalb Stunden nur, und das Werk ist getan: Das Doppel-Psychogramm von Luxemburg und Liebknecht ist erzählt. Der Bogen vom Front-Horror des Ersten Weltkriegs zum Nationalsozialismus ist geschlagen. Und die Frage ist gestellt, „wie wir dem Dunklen begegnen“, so Dramaturgin Senf, „und all dem und den anderen, das wir negiert haben und das uns vielleicht genau deshalb immer wieder heimsucht“. Wir? Das schließt auch den Zuschauer ein.
Denn es geht in „Rosa und Karl“ nicht nur um die Tage vor 100 Jahren, in denen Deutschlands sozialistische Revolution scheitert. Es geht auch, sehr appellativ, ums Hier und Jetzt des Neofaschismus. Wer seine Vergangenheit nicht verstanden hat, lernen wir einmal mehr, ist verdammt, sie zu wiederholen. Eine Theaterschlacht schlägt Barthelmes dafür nicht. Kein Blut ist zu sehen, kein Gewehrkolbenstoß. Seelenlandschaften breitet sie vor uns aus. Alptraumhafte Psychosen gespenstischer Wiedergänger, die niemals Ruhe finden.
Döblins „Karl und Rosa“ zu „Rosa und Karl“ zu ändern, ist dabei weit mehr als ein emanzipatorisches Symbol. Es ist Programm: Liebknecht, der desillusionierte, ins Literarische zurückgezogene Pessimist, tritt gegen Luxemburg, die am Leben verzweifelnde Mystikerin, deutlich zurück.
Wie Liebknecht einst wirklich zu Luxemburg stand? Um solche Fakten geht es hier nicht, und das ist gut so. Eins aber sehen wir klar: Der Mensch, wissen beide, der Mensch als Masse, ist feige, träge, dumpf, haltungslos, lernunfähig. Ihr sozialistischer Kampf war vergebens; ihr Pazifismus eine Sackgasse.
Es sind aber nicht die Titelfiguren, die am nachhaltigsten in Erinnerung bleiben. Hannah Walther hat als Rosa Luxemburg zwar viele stimmungsstarke Szenen, verharrt jedoch zu oft in Stereotypen – ihre Gefühle und Gedanken gelangen dann über das Stadium bloßer Behauptung nicht hinaus. Und Florian Kleine entfacht als Karl Liebknecht selbst in Revolutionsrednerpose keine Glut. Thomas Kienast dagegen, der als Satan Verwandlung auf Verwandlung zeigen kann, schrill, wild und überspitzt, reißt mit. Und die größten Momente gehören Mick Riesbeck. Als verwundeter, traumatisierter Kriegsheimkehrer Friedrich Becker hat er eher eine Nebenrolle. Aber die füllt er brillant. Seine Hand krampft sich schwer um die Krücke, wahnverwirrt streichelt er ein Karussellpferd, sein Blick bohrt sich ins Publikum, lange, beklemmend.
Der Abend geht Wagnisse ein. Handlung gibt es kaum, dafür viele Monologe. Minutenlang herrscht Dunkelheit, und nur Stimmen sind zu hören. Auch gibt Barthelmes Döblins Katholizismen Raum. Aber das erhöht nur die Verstörung. Die ist produktiv.
„Rosa und Karl“ ist ein Abend der inneren Stimmen. Aber er ist auch ein Abend der Schauwerte. Und das hängt vor allem mit Anthoula Bournas Bühnenbild zusammen. Denn der blutrote Trichter, der nach Artdéco-Luxus aussieht aber auch nach Kirche, lässt sich öffnen, falten, knicken, drehen. Rechts tritt eine Badewanne zutage – Rosa liegt in ihr Satan in den Armen. Links schält sich Liebknechts großbürgerliches Studierzimmer heraus. In der Mitte öffnet sich am Ende eine Paradies-Vision, wie sie kitschiger und zuckriger nicht sein könnte: Cremefarbene Draperien und Säulchen, eine pinke Sitzbank, ein Tablett Champagner.
Ein Augenblick im „Eden“, der so schrill ist, so absonderlich, dass er alles andere Schrille, alles andere Absonderliche des Abends mühelos überhöht. Die Knallerbsen, die Satan wirft. Revolutionärin Minna mit ihrem „Queen“-Song „Who Wants to Live Forever“. Dass Liebknecht John Miltons „Das verlorene Paradies“ als gelbes Reclam-Bändchen liest.
Die Härten der Welt verdrängt das nicht: Wenn Frontsoldat Becker, dem Satan zwischendrin die Krücke wegtritt, Luftkampf-Verwundungen schildert. Wenn Geschützdonner wummert, Marschmusik dröhnt und ein Kürassier seinen eigenen Kopf auf seine Lanze spießt. Nein, hier ist keine Spartakisten-Straßenschlacht zu sehen, kein Politpathos: Wir lernen etwas über die Zerrissenheit des Menschen und der Welt.
Das Ganze endet mit dem süßlichen Film-Song „Que será, será / Whatever will be, will be“. Auch das ist, natürlich, eine Herausforderung. Fatalisten erdulden nur. Wer nur erduldet, ändert nichts.
12., 20., 22. 2., emma-theater, Osnabrück
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