Politik ohne Parlament

Der marokkanische Choreograf und „On Marche“-Gründer Taoufiq Izeddiou stürzt im HAU3 den Körper vom Sockel

Von Astrid Kaminski

Vier Sockel, vier Körper, und obwohl die Tanzszene sich so damit abmüht, alle Model-BMIs über Bord zu werfen, ist es das Erste, was hier auffällt: Das sind Körper mit Rundungen. Dass die Rundung nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, kommt immer noch selten vor. In der Tanzszene sind Performer*innen, die mehr Gewicht auf die Tanzbühne bringen, als das Auge gewöhnt ist, fast an einer Hand abzählbar, zumindest die bekannteren. Die Wienerin Doris Uhlich gehört dazu oder die aus den USA stammende Berliner Performer*in Liz Rosenfeld.

Die vier Körper auf den Sockeln aber gehören zur neuen Arbeit des marokkanischen Szenegründers, Choreografen und Tänzers Taoufiq Izeddiou. Sein Stück „Botero in Orient“ ist eine Preview nach einer Residenz am Berliner HAU Hebbel am Ufer, vor der Premiere in Paris. Im März wird es dann auf Izeddious legendärem Festival „On Marche“ zu sehen sein. Dieses Jahr geht es in die 14. Ausgabe, und wie in jedem Jahr soll (so die in Marrakesch regierenden Islamisten die Genehmigung erteilen) auch das Abschlussritual, das Überqueren eines städtischen Platzes in Zeitlupe zu traditioneller Daka-Musik, wieder stattfinden.

„On Marche“, auf Deutsch „Wir gehen“, klingt phonetisch fast gleich wie „En marche“, in Bewegung – ist aber um einige Jahre etablierter als die Partei des französischen Präsidenten. Sichtbar sein, sich bewegen, weitermachen, etwas in Bewegung versetzen: All das schafft Taoufiq Izeddiou als Vorreiter der maghrebinischen Szene.

In diesem Jahr startet nach einer Pilotphase die erste zeitgenössische Tanzausbildung in Marokko – in einer Mischung aus Orient- und Okzidentkomponenten. Der angehende Tänzer Marouane Mezouar, der in „Botero in Orient“ mit auf der Bühne steht, ist Teil des Programms.

Für das neue Stück hat Izeddiou zum ersten Mal überhaupt in seiner Laufbahn ein Casting veranstaltet. Grund dafür war ein Déjà-vu in Venedig, wo er auf eine Skulptur des kolumbianischen Malers und Bildhauers Fernando Botero gestoßen war. „Das bin ich“, dachte er. „Lange Zeit habe ich in einem Körper des europäischen Tanzes gelebt, in dem Körper der Mode-Mafia, aber mein Körper hatte sich verändert. Ich war ein kleiner Botero geworden“.

Statt einer Diät machte er also ein Casting. Ziel: Alle Bewerber*innen sollten mindestens so gewichtig sein wie er selbst, und sie sollten ausgebildete Tänzer*innen sein. Die Techniken des Tanzes sind Izeddiou wichtig. Die Fantasie und Lust des trainierten Körpers sind für ihn die Basis, um aus Normen und auferlegter Moral auszubrechen, um eine kraftvolle Dynamik entstehen zu lassen.

Was in der Preview erstaunt, sind die Floskeln des zeitgenössischen Tanzes, die vor allem der Choreograf selbst und die Tänzerin Karine Girard benutzen. Sie sehen nach einem Symptom aus: In diesen Körpern steckt eben auch sehr viel genormtes Vokabular. Statt die Gewohnheit zu parieren, wird sie fortgesetzt. Ob hierin das Potenzial einer Verdichtung steckt – einer bewussten Technikversklavung oder einer Sprengung des Tanzkörpers von innen –, ist noch nicht klar.

Auch das zweite Thema des Abends, die Verweise auf Boteros Verarbeitung der Folterbilder von Abu Ghraib, ist noch schwierig einzuordnen. Izeddious Ansatz, den Skulpturensockel aus der bildenden Kunst und den berüchtigten Sperrholzsockel der Elektroschockfolter von Abu Ghraib gegenzublenden, ist eine starke, fast brachiale Setzung.

Ist der Sockel hier Indiz eines kolonialen Blicks, der einst den Idealkörper einer griechischen Aphrodite oder römischen Venus von dem der als „Hottentotten-Venus“ brutal lächerlich gemachten Südafrikanerin Sarah Baartman unterschied?

Wie lässt sich dann diese ­geschichtliche Brutalität, ­deren menschenverachtendes Potenzial in Abu Ghraib seine schlimmste Perversionsstufe erreichte, mit der Situation des Körpers in der arabischen Welt verknüpfen? Izeddiou scheint in „Botero in Orient“ ­permanente Perspektiv­ambivalenzen zu ­ermöglichen zwischen dem dekadenten, dem ausgestellten, dem unter­drückten und dem von ihm im Gespräch ­„orientalisch und raum­greifend“ genannten Körper, der eine Selbstermächtigungskomponente ausstrahlt. Die ­Politik der Körper als eine Politik des Blicks, ohne Parlament.