piwik no script img

Archiv-Artikel

Schleyers Gattin

Die NS-Vergangenheit von Hanns Martin Schleyer ist bekannt, die nach ihm benannte Halle in Stuttgart auch. Vor 35 Jahren wurde er von der RAF ermordet, zu Grabe getragen von seiner Gattin Waltrude, die bis zu ihrem Tod (2008) behauptete, von nichts gewusst zu haben. Der NS-Experte Erich Später belegt mit bisher unbekannten Details das Gegenteil

von Erich Später

Schleyer hat sein Leben schon früh mit der SS verbunden. Aus einem nationalistischen Elternhaus stammend, tritt er 1931 der Hitlerjugend, zwei Jahre später der SS bei. Bereits im Alter von 18 Jahren erhält er im Jahre 1933 die SS-Mitgliedsnummer 227.014. Die SS ist zu dieser Zeit eine kleine elitäre Organisation, die der viel mächtigeren SA untergeordnet ist. Sein Lebensweg führt den Naziaktivisten über die Universität Heidelberg nach Innsbruck, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht Leiter des dortigen Studentenwerks wird. Schleyer gehört zu den NS-Kadern, die nach Innsbruck geschickt werden, um die dortige Universität politisch und rassisch zu säubern.

Der 1915 in Offenburg geborene Schleyer ist zu diesem Zeitpunkt Oberscharführer des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS und Angehöriger des Sicherheitsdiensts (SD) des Geheimdiensts der SS. Die Säuberung der Universität verläuft reibungslos. Bereits im November 1938 meldet der neue Rektor dem Reichserziehungsminsterium, dass die Universität judenfrei ist. Auch die Stadt Innsbruck ist es fast – nach dem Pogrom vom 9. November, das hier mit brutaler Mordlust durchgeführt wird. Einige von Schleyers Kameraden aus der Universität tun sich besonders hervor. Ob Schleyer selbst am Pogrom beteiligt war, wissen wir nicht. Er hat nie darüber gesprochen, und es hat ihn auch nie jemand danach gefragt.

An Weihnachten 1938 verlobt sich Schleyer mit der aus einer angesehenen Münchner Nazifamilie stammenden Waltrude Ketterer. Ihr Vater Emil Ketterer ist einer der frühen und fanatischen Münchner Gefolgsleute Hitlers. Als Mitglied eines rechtsradikalen Freikorps beteiligt er sich 1923 am Hitlerputsch und wird dafür mit dem höchsten Orden der NSDAP, dem Blutorden, ausgezeichnet. Als hoher Funktionär des NS-Ärztebunds beteiligt sich Ketterer an der Vernichtung der beruflichen und bürgerlichen Existenz der jüdischen Ärzte in Deutschland und propagiert die Zwangssterilisierung und Ermordung körperlich und geistig behinderter Menschen.

Von 1936 bis 1945 ist Ketterer Vorsitzender des TSV 1860 München. Im Gegensatz zum „jüdischen“ FC Bayern ist 1860 bei den Nationalsozialisten beliebt und gilt als einer der vier reichsweiten NS-Mustervereine. Wenig schmeichelhaft für den „proletarischen Verein“, der deswegen in seinem Internetauftritt lieber ganz auf die Jahre 1933–45 verzichtet.

Ketterers Tochter Waltrude wird am 21. Januar 1916 in München geboren. Ein Studium der Medizin bricht sie nach eigenen Angaben ab und absolviert eine Ausbildung zur Krankengymnastin. Am 11. Juni 1937 wird sie Mitglied der NSDAP mit der Nummer 4.093.846, aufgenommen im Gau Bayrische Ostmark. Während ihres langen Lebens wird sie ihre NSDAP-Mitgliedschaft niemals öffentlich erwähnen und an ihrer Lebenslüge, sie sei die unpolitische Ehefrau eines untadligen Mannes gewesen, tapfer festhalten.

Heirat und SS-Karriere drohen am Großvater zu scheitern

Ende 1938 hat das Paar eine Prüfung durch das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt zu bestehen. Auf Anweisung von SS-Führer Heinrich Himmler muss bei einer Eheschließung von SS-Mitgliedern ein Abstammungsnachweis vorgelegt werden und durch eine rassische Untersuchung die Ehewürdigkeit nachgewiesen werden. Die Erlaubnis zur Eheschließung erteilt Himmler persönlich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die SS kein Männerbund, die Rolle der Ehefrau politisch definiert war und die Zugehörigkeit zur SS-Sippe eine herausragende Stellung innerhalb des deutschen Rassestaats garantierte. Die arische Abstammung musste anhand von Ahnentafeln bis 1800 nachgewiesen werden.

Für Schleyer ist die Gründung seiner Sippengemeinschaft mit großen Problemen verbunden. Sein früher SS-Eintritt hat ihm zwar den aufwendigen Abstammungsnachweis, der erst seit 1. Juni 1935 obligatorisch war, erspart, aber seine Heirat und seine weitere SS-Karriere drohen an der Herkunft seines Großvaters zu scheitern. Der war 1852 unehelich geboren, und dessen Vater wiederum soll ein Zollangestellter namens Neubert gewesen sein. Man konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Neubert Jude gewesen war.

Schleyer schafft es nicht, diesen Makel auszuräumen. Obwohl es ihm gelingt, bei Kirchengemeinden und Standesämtern 90 Urkunden zu besorgen, kann er keinen Nachweis über die Herkunft des unbekannten Urgroßvaters erbringen. Um diesen Makel auszugleichen, beruft er sich in seinem Verlobungs- und Heiratsgesuch vom 31. August 1938 auf die hohe NS-Position seines Schwiegervaters Ketterer und benennt zwei der höchsten NS-Chargen als Bürgen für seine Ehe. Es handelt sich bei diesen beiden Personen um den Chefadjutanten Hitlers, Wilhelm Brückner, und den SS-Gruppenführer Karl Wolff, der den persönlichen Stab von Himmler leitet. Wolff organisiert im Jahr 1942 die Deportation der Warschauer Juden in das Massenvernichtungslager Treblinka und wird dafür 1964 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.

Heinrich Himmler hilft persönlich

Aber die prominenten Bürgen können dem Paar nicht die ersehnte Heiratserlaubnis verschaffen. Erst die Intervention von Heinrich Himmler beschleunigt die Klärung der Heiratsfrage. In dem von Gruppenführer Wolff unterschriebenen Brief an die zuständige Dienststelle der SS wird folgende Anordnung Himmlers mitgeteilt: „Da sowohl SA-Obergruppenführer Ketterer, der Vater von Waltraut K., wie auch Fräulein Ketterer selbst dem Reichsführer SS persönlich bekannt sind, wurde am 1. Oktober nachstehendes Telegramm an Fräulein Waltraut K. abgeschickt: Heirat mit SS- Oberscharführer Schleyer auf beiderseitige Verantwortung freigegeben …“

Die Heirat auf „beiderseitige Verantwortung“ bedeutet Zweifel an der rassischen Reinheit der zu gründenden SS-Sippe. Unmittelbar nach dem Telegramm Himmlers, am 21. Oktober 1939, wird die Ehe geschlossen.

Vier Jahre später wird Schleyer zum SS-Führer beim Reichssicherheitshauptamt ernannt, der Zentrale des NS-Völkermords. Es ist die Zeit der Besetzung Prags, in der von 1939 an sechs Jahre lang der deutsche Terror wütet. In Prag bündeln sich die Politik der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die Bestrebungen zur Germanisierung des Landes. Ein Planungs- und Forschungszentrum für diese Politik ist die deutsche Universität in Prag. Ihr Ausbau hat reichsweite Priorität. NS-Aktivisten und SS-Mitglieder werden bevorzugt als Professoren berufen. Schleyer übernimmt die Leitung des Studentenwerks der Universität.

Das Ehepaar kann das Grauen jeden Tag beobachten

Das Ehepaar Schleyer zieht nach Prag Holešovice in die Messestraße 19. Die jüdischen Eigentümer des Hauses, die Familien Kolisch und Klein, sind Mitte 1939 enteignet, Rudolf Klein und seine Frau ermordet worden. Das Ehepaar Kolisch kann sich mit zwei Söhnen durch Flucht in die USA retten. Die Messestraße 19 liegt in unmittelbarer Nähe des Prager Messegeländes, keine 300 Meter vom zentralen Deportationsort der Prager Juden entfernt. Das Ehepaar Schleyer wohnt dort von September 1941 bis Oktober 1944 und kann das Grauen jeden Tag beobachten. Die Deportationen aus Prag beginnen am 16. Oktober 1941. Bis März 1943 sind es 36.000 Menschen, die auf dem Messegelände unter furchtbaren Bedingungen konzentriert, ausgeplündert und schließlich in langen Elendszügen zum nahen Bahnhof gebracht werden.

Anfang 1944 ist Prag fast judenfrei und Schleyer hat einen neuen Karriereschritt gemacht. Er wird in die Führungsriege des „Zentralverbandes der Industrie für Böhmen und Mähren“ berufen. Dieser organisiert in enger Zusammenarbeit mit den deutschen Rüstungsinspektionen und den Gestapo-Leitstellen das Ausbeutungs- und Terrorsystem der deutschen Rüstungswirtschaft im Protektorat.

Schleyers Karriere ist auch mit einer wesentlichen Verbesserung seiner Wohnsituation verbunden. Am 1. Oktober 1944 bezieht das Ehepaar im noblen Prager Vorort Bubenetsch eine geräumige Villa. Dessen vorheriger Mieter, der Dekan der juristischen Fakultät Friedrich Klausing, hat im Gefolge des am 20. Juli 1944 gescheiterten Attentats auf Hitler Selbstmord begangen. Für den fanatischen SA-Führer Klausing ist die Teilnahme seines Sohnes an der Vorbereitung des Attentats, als Adjutant Stauffenbergs, eine persönliche Katastrophe. Er legt sofort alle Ämter nieder, um sich freiwillig an die Ostfront zu melden. Sein Pech ist, dass es noch fanatischere Nazis als ihn gibt. Franz May, der oberste SA-Führer des Sudetenlands, fordert Klausing zum Selbstmord auf, den er am 6. August begeht, nicht ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, der mit „Es lebe Deutschland – es lebe der deutsche Geist, es lebe der deutsche Soldat. Es lebe die SA – es lebe der Führer“ endet.

Waltrude Schleyer weiß nicht mehr, wie sie zur Villa kamen

Die Zuweisung von Villen und größeren Häusern aus vormals jüdischem Besitz erfolgt in Prag nur durch Genehmigung des obersten Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD, Karl Hermann Frank. Bei der Vergabe wird vor allem auf die politische Zuverlässigkeit der deutschen Bewerber geachtet. Schleyer kann sich gegen mehrere Konkurrenten durchsetzen und erhält den Zuschlag für die Villa in der Bubenetscher Str. 55. Die ursprünglichen Besitzer der Villa, das jüdische Ehepaar Waigner, sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Sie mussten das Haus bereits im August 1940 verlassen und in ein „Judenhaus“ umziehen. Vor ihrer Ermordung wurden sie ausgeplündert und wie alle 40.000 Prager Juden brutal gedemütigt und unterdrückt.

Emil Waigner ist bis 1939 einer der Direktoren der Bank für Handel und Industrie. Er wird wie alle jüdischen Angestellten nach Übernahme des Instituts durch die Dresdner Bank entlassen. Am 16. Dezember 1941 wird er von der Gestapo verhaftet, vier Tage später in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht. Er erhält die Häftlingsnummer 5.771 und stirbt im Alter von 53 Jahren am 19. Februar 1942. Im Totenbuch Mauthausen wird als Todesursache Bluthochdruck mit Gehirnblutung eingetragen. Marie Waigner wird am 24. Februar 1942 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. Sie erhält die Häftlingsnummer 9.558, wird im Sommer 1942 nach Auschwitz deportiert und erhält dort die sehr niedrige Häftlingsnummer 3.745. Sie stirbt am 14. Oktober 1942, angeblich an einem Magen-Darm-Katarrh.

Im Mai 1945 muss die Familie Schleyer aus Prag fliehen und vergisst im Laufe der Jahre ihr Leben als Teil der SS-Herrenschicht. „Wir suchten ja schon seit Jahren nach einer größeren Wohnung“, erzählt Waltrude Schleyer in einem Interview, „und das [die Villa Waigner– E.S.] wurde uns dann angeboten. Das weiß ich auch nicht mehr genau, wie das ging: Wir haben dann halt drin gewohnt.“

Erich Später recherchiert seit Jahren über die Politik und Vergangenheit der deutschen Vertriebenenverbände. Er ist Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung im Saarland. Sein letztes Buch trägt den Titel „Villa Waigner, Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1939–45“ und ist im Konkret-Verlag erschienen.