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My House Is Your House – Labels in Berlin (I): Produzieren heißt reduzieren: Mit ihrem Electrohouse-Sound sind Get Physical eines der erfolgreichsten Berliner Labels. Hinter den meisten Tracks steckt das Duo Walter Merziger und Arno Kammermeier
VON TOBIAS RAPP
Es ist so schön, sich mit glücklichen Menschen zu unterhalten. Walter Merziger und Arno Kammermeier gehören an diesem Nachmittag dazu. Gerade sind sie aus dem spanischen Valencia zurückgekommen, wo sie vor vielen tausend Menschen bei einem großen Rave am Strand gespielt haben, und selbst der Umstand, dass ihre wertvollen Synthesizer mit Sand voll geweht wurden, kann ihnen nicht die Laune verderben. Dann müssen die Dinger eben zum Saubermachen gegeben werden.
Eigentlich nichts Besonderes für zwei Produzenten, die unter dem Namen Booka Shade eines der besten House-Alben der letzten Jahre herausgebracht haben und die mit Get Physical eines der gegenwärtig erfolgreichsten deutschen Dance-Labels mitbetreiben, würde man denken. Aber das ist etwas Besonderes. Denn Merziger und Kammermeier stecken zwar hinter den meisten Produktionen auf Get Physical – doch obwohl sie schon seit gut zwanzig Jahren im Musikgeschäft sind, standen sie nie großartig im Rampenlicht. Dass sie auf Tour gehen, ist neu. Eigentlich sind sie immer noch vor allem im Studio zu Hause. Und anstrengend sei das Touren auch: „Als DJ kannst du ja immer sagen, der Montag ist mein Sonntag. Das können wir nicht. Wir müssen Montagvormittag wieder hier sein“, sagt Merziger, um dann wieder von dem Strandrave zu schwärmen und dem warmen Empfang, den die Feiernden ihnen gaben.
Electrohouse wird das Genre genannt, das Get Physical mitbegründet haben, und wie die meisten Genrebezeichnungen ist sie gleichzeitig treffend und doch unterkomplex. Treffend, weil sie genau die Mischung reduzierter Electrosounds auf der Basis eines Houserhythmus beschreibt, die auf fast alle Get-Physical-Produktionen zutrifft. Unterkomplex, weil Merziger und Kammermeier nicht müde werden zu betonen, wie wichtig ihnen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Baureihen sind, an denen sie arbeiten, und die Künstler, denen sie die Tracks auf den Leib schneidern – der retrogesättigte Sound von DJ T., ihre eigenen soundtrackartigen Großgefühlshouse-Epen für Booka Shade, die Dancefloormuttern, die M.A.N.D.Y. zum Verschrauben anbieten, oder die Deep-House-Tracks von Chelonius R. Jones. Ob es eine verträumt-paradiesische, leicht trancegetragene Hymne wie das aktuelle „Mandarine Girl“ von Booka Shade ist, die electrofizierten Kracher wie DJ T.s „Philly“ oder „Free Mind“ oder das morgendämmerungssonnendurchflutete „Our World, Our Music“ von Sunsetpeople – die Get-Physical-Tracks laufen in England wie in Australien, in Spanien wie in Oslo.
Merziger and Kammermeier kennen sich noch aus der Schule. 1984 war es, als sie ihre erste Band gründeten, noch einige weitere folgten und mit einer schafften sie es tatsächlich, bei einem Major unter Vertrag genommen zu werden: Planet Claire (benannt nach dem B-52’s-Song) machte Synthie-Pop und brachte es auf zwei Alben. Zusammen mit Peter Hayo, dem Dritten im Bunde, der sich aber gerne im Hintergrund hält, entdeckten sie in den frühen Neunzigern in Frankfurt Techno und begannen bald darauf unter diversen Namen für Labels wie Harthouse, R&S und Touché zu produzieren. Um schließlich die Produktion für einen dieser Eurohouse-Acts zu übernehmen, wie sie in jener Zeit mit dem stumpfen, aber tollen Housebeat-plus-Sängerin-plus-Rapper-Rezept die Charts dominierten: Culture Beat. Von dort führte sie ihr Weg zur Produktion einiger No-Angels-Stücke sowie einigen Jobs, die Merziger heute „falsche Projekte“ nennt. Das war um die Jahrtausendwende. Die beiden beschlossen, sich aus der kommerziellen Popmusik zurückzuziehen und etwas anderes zu machen: Film- und Werbemusik.
Was sie übrigens bis heute machen. Denn, so Merziger: Auch wenn sie 90 Prozent ihrer Zeit auf Get Physical verwenden, die restlichen zehn Prozent Werbefilme reichen, um den Laden im Großen und Ganzen zu finanzieren. Womit sie auch glücklich und zufrieden sind. „Die ganze BWL-Denke will ich mir gar nicht erst draufschaffen“, sagt Kammermeier und meint, sie würden eher funktionieren wie Underworld und ihre Londoner Agentur Tomato. Wer besondere Musik haben wolle, könne sich eben bei ihnen melden. Levi’s und BMW waren das in letzter Zeit.
Sie waren nicht die einzigen Musiker aus dem weiten Feld der elektronischen Tanzmusik, die sich vor drei, vier Jahren entschieden, etwas Neues anzufangen, und für die dieses Neue eng verbunden war mit einem Umzug nach Berlin. Im Allgemeinen nicht, denn schier unübersehbar ist der Strom von Labelmachern, DJs und Produzenten, die sich seitdem auf den Weg gemacht haben, das Feld noch einmal von Berlin aus aufzurollen. Vor allem aber auch im Konkreten nicht. Denn die Partner, mit denen sie sich dazu entschlossen, Get Physical zu gründen, standen vor ähnlichen Entscheidungen. Thomas Koch, Herausgeber des Magazins Groove, verlegte erst den Redaktionssitz nach Berlin, um es schließlich zu verkaufen. Unter dem Namen DJ T. legt er seitdem auf und produziert Platten. Genau wie Patrick Bodmer und Philipp Jung, die ihre alten Leben hinter sich ließen, um als DJ-Duo M.A.N.D.Y. Musik zu machen und aufzulegen. Allesamt seit langem im Musikgeschäft unterwegs, damals allesamt unzufrieden und darauf aus, es vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen nun wissen zu wollen.
Eine glückliche Kombination, wie sich bald herausstellen sollte. Merziger und Kammermeier bilden das Produzentenrückgrat, das zusammen mit Koch oder den M.A.N.D.Y.s ihre musikalischen Ideen in Tracks umsetzt, und die DJs mit ihrem breit gefächerten Freundes- und Bekanntschaftskreis kümmern sich um die Akquise neuer Künstler und halten den Kontakt zum aktuellen Geschehen auf der Tanzfläche. „Es hat keinen Sinn, als Produzent immer nur seinen Sound draufzuknallen“, sagt Merziger. „Wir hören uns an, wie die Vision des jeweiligen Künstlers ist, und schlagen was vor, entwickeln das Gesicht des Acts. Man muss in deren Köpfe hineinkriechen.“ Wobei die besondere Kunst von Merziger und Kammermeier in ihrem Gefühl für Raum besteht. „Produzieren heißt reduzieren“, sagen sie gleich mehrmals im Laufe des Gesprächs und bestehen darauf, dass ihre Tracks so fett gar nicht angelegt wären, wie sie dann klängen. Sie hätten einfach genug Luft.
Und so sehr dieser Sound gegenwärtig Wochenende für Wochenende hunderte von Ravetouristen nach Berlin zieht, die dann in einen Club wie das Weekend pilgern, wo M.A.N.D.Y. die Resident-DJs sind, so viel verdankt diese Musik wiederum der Stadt. Der Austausch mit anderen Produzenten sei freundlich, niemand habe Angst, der andere könne ihm etwas wegnehmen. „Für viele Branchen hat der Berlinhype nicht funktioniert. Mancher Werber zieht wieder weg“, resümiert Kammermeier. „Aber für uns ist es fantastisch.“
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