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Die Unruhe des Kopfes

Gewalterfahrungen, Heimatverlust, musikalische Sprache: Guntram Vespers gesammelte Gedichte laden zur Begegnung mit diesem Wiederentdeckten ein

Guntram Vesper: „Tieflandsbucht. Die Gedichte“. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 525 Seiten, 32 Euro

Von Thomas Schaefer

Schon auf Seite 15 fällt zum ersten Mal das Haupt- und Zauberwort, der Name der „kleinen Stadt Frohburg/in Sachsen“. Frohburg, das ist der Ort bei Leipzig, in dem der Dichter Gunt­ram Vesper 1941 zur Welt kam, es ist der Titel eines Vesper-Gedichtbands von 1985 und der jenes Prosa-Tausendseiters, mit dem der in Göttingen lebende Autor 2016 ein erstaunliches Comeback feierte, nachdem er zwei Jahrzehnte lang nur in ausgesuchten Kleinverlagen veröffentlicht hatte. Der Schöffling-Verlag sah sich motiviert, eine Gesamtausgabe aufzulegen. 2017 erschien die gesammelte Prosa, nun die Lyrik. Damit erhält das Publikum die Gelegenheit, einen Lyriker zu entdecken, der in den 1980er Jahren zu den wichtigsten der deutschsprachigen Literatur zählte, dessen Werk ohne den „Frohburg“-Erfolg aber vielleicht in Vergessenheit geraten wäre. „Tieflandsbucht“ beweist, was das für einen Verlust bedeutet hätte.

Nach ersten, naturgemäß etwas prätentiösen Versuchen findet Vesper früh den Stil, der seine Gedichte prägt: das Verknappte, Karge. Das Formprinzip ist stets ähnlich: Zunächst wird eine Begebenheit, gern aus der unmittelbaren Frohburger oder Göttinger Nachbarschaft, das heißt, der eigenen Biografie, auf im Wortsinn prosaische Weise erzählt, und am Ende steht eine pointierte Schlussfolgerung, wie hier im Gedicht „Mein Lehrer im Zeichnen“: „Irgendwann holt man / die alten Blätter hervor / und sucht / nach dem ersten Strich / der alle späteren / festgelegt hat // jedes Heft / ein anderer Ansatz / das Leben zu sehen, immer // genauer / und ärmer.“ Oft eignet dieser Wendung vom Außen zum Innen eine moralische Konsequenz, sogar eine Handlungsaufforderung, wie im programmatischen „Landmeer“: „Wir dürfen unser / Leben / nicht beschreiben, wie wir es / gelebt haben / sondern müssen es / so leben / wie wir es erzählen werden: / Mitleid / Trauer und Empörung.“

Frohburg Sehnsuchtsort

Dezidiert politisch sind vor allem Vespers Gedichte aus den 60er und frühen 70er Jahren, in zeitgeschichtlichen Bezügen stehen aber alle Texte, und fast alle haben einen narrativen Zug. Es ist kein Wunder, dass manche Passagen wortwörtlich in Prosatexten Vespers wieder auftauchen, die ihrerseits in ihrer Musikalität und Konzentration einen stark lyrischen Charakter aufweisen. Gereimt wird bei Vesper nur in einigen der frühen Gedichte, die hier erstmals zugänglich beziehungsweise versammelt sind.

Und natürlich spiegeln die Gedichte all die Themen, die auch in der Prosa dominieren: vor allem Gewalt als elementare Erfahrung, die das Leben Vespers grundiert, der im Zweiten Weltkrieg zur Welt kam, die junge DDR erlebte und dann, nachdem die Familie 1957 in den Westen gegangen war, die traumatische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht zuletzt deshalb ist Frohburg stets Sehnsuchtsort geblieben, der immer wieder beschworene Schauplatz der Kindheit als Landarztsohn. Die Kleinstadt wird zur Chiffre einer exemplarischen Kindheit, aber auch aller Katastrophen und Grausamkeiten der privaten und Staatsaktionen.

Es ist eine Fixierung, in der sich sprachlicher Ausdruck und psychologische Notwendigkeit in einer Dringlichkeit verbinden, die Peter Rühmkorf 1981 anhand der Lektüre von Vespers Gedichtband „Die Illusion des Unglücks“ erkannt hat: „Wer genau genug hinblickt, liest ja aus jeder Zeile, jeder Strophe, jedem dichterischen Vergleich den immensen Kunstaufwand mit heraus, dessen es bedurfte, die Unruhe des Kopfes nur für einen Augenblick zu stillen.“

Dieser Unruhe und der aus ihr resultierenden Disziplin verdankt sich die Klarheit dieser Gedichte, der unverwechselbare Vesper-Ton, wie er zum Beispiel im Zyklus „Nordwestpassage“ (1985) zum Klingen kommt: „Mein Traum das Seeleben / das Vorüberfliegen der Schiffe auf dem ungeheuren Meer / Matrosen voll kindlicher Freude / an der Reling / Winken, Rufe / von Bord zu Bord, Fragen / nach dem Woher, Wohin / nach fernem Krieg und fernem Frieden. // In solcher Gesellschaft nichts wissen / immer zwischen den Kontinenten / an ihrem Saum / auf der Wellenlinieder Schönheit.“

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