: Lizenz zum Nervtöten
Die Hölle heißt heutzutage Privatradio. Warum dreht ihnen keiner den Saft ab?
Sie heißen Antenne Bayern, Hit-Radio Antenne 1, Radio 21, Mallorca 95,8, Hitwelle Isental, joyfm.de, Radio nrj, Power Radio, Radio PSR. Sie haben unser Gemeinwesen seit gut 20 Jahren mehr verändert als alle vergangenen und wohl auch künftigen Bundesregierungen und es konsequent in die ästhetische Steinzeit zurückgesendet. Kaum ein Schrebergarten-Gulag, Schwimmbad oder Baumarkt, kaum eine Hotellobby, Arztpraxis, Gaststätte oder Einkaufsarkadenklitsche, wo nicht der Verderben bringende Stilmix aus Castinghits und Oldiejauche durch die Boxen quillt.
Bei den Friseuren der Preislage „Haarscharf“ oder „Haarmonie“ übertönt er das Geschrei der mit Marianne-Rosenberg-Frisuren gefolterten Opfer. Adipöse Handwerker kompensieren damit den eigenen Selbstvergewisserungslärm. Lätta-Frühstücker ornamentieren damit ihre morgendlichen Bulimieattacken. Leute mit integrierter Verneigetechnik vor dem Mittelmaß summen mit, während sie das tun, was sie Kochen nennen. Brummifahrer mit den beliebten Steffen-, Jens- oder Rico-Schildern hinter der Frontscheibe suchen bei den Äthertätern Zuflucht vor dem eigenen Motoreninferno. Sie komplettieren die Dreifaltigkeit des modernen Unheils aus Museumsnächten und NPD-Landtagsfraktionen und werden mit dem Euphemismus „Privatradios“ umschrieben.
Was sie schon zu nachtschlafender Zeit gute Laune nennen, bricht aus affektlabilen Frühstücksdirektoren hervor, die höchstens den IQ eines über Generationen mit radioaktiv verseuchten Regenwürmern gekreuzten FDP-Nazis unter Verwendung von angeknabberten RTL-2-Stammzellen nutzen, um den unterhaltungssanitären Bereich vollends von vernunftgeleiteten Prozessen abzukoppeln. Die Sendelizenz als Lizenz zum Nervtöten.
Also beginnen sie die Tagestotalität des „Programms“ wie in der Seniorenresidenz: „Wir helfen Ihnen beim Aufstehen.“ Dann kommen Jingles, Werbung und „der ganz normale Wahnsinn“: Nachrichten zur vollen und halben Stunde, Jingles, Werbung, Verkehrsmeldungen, Jingles, Wetter im Viertelstundentakt, Werbung, Jingles, Sportmeldungen, Jingles, Tankstopp – die aktuellen Spritpreise, Jingles, Werbung, Horoskop sowie Infos aus der Region und aller Welt und Jingles. Und Werbung. Dazwischen Quatsch- und Flirttelefone, schlüpfrige Witze aus Kindermund und all das, was in Deutschland trotz eindeutiger Quellenlage und weltweit gegenteiliger Ansichten für lustig gehalten wird. Oder es wird die „Jobbörse“ mit den beiden aktuell freien Stellen im Sendegebiet anjongliert. Wer nach 4.000 Wettermeldungen, 8.000 Jingles und 16.000 Werbespots noch immer nicht dement geworden ist, erträgt „kurz nach halb 5“ sogar die „Veranstaltungstipps“.
Wo kein Geschlechtsverkehr mehr droht, bleibt eben nur der Straßenverkehr. Deshalb erfährt der Abhängige über big fm, 104,6 RTL Berlin, Radio RPR, Antenne Süd-Baden, Radio FFH und Planet Radio viertelstündlich, was er nicht begreift und wie das Wetter war, und selbst die „Nachrichten“ entpuppen sich als aktuelle Unfallmeldungen. Immer und überall werden „teure Fotos“ geblitzt, gibt es böswillige Umleitungen, kommt einem die Straßenreinigung in die Quere oder störender neuer Rollsplitt, gibt es Unfälle, werden von 15-Jährigen reihenweise Autospiegel verbogen, beschädigen umstürzende Bäume zahlreiche Autos oder macht die Kriminalpolizei „verdächtige Wahrnehmungen“.
Sollte aber bisher der Eindruck entstanden sein, wertorientierte Privatradios seien wortorientierte Sender, täuscht das gewaltig. Denn am Anfang und am Ende steht die Musik, „die größten Hits für Baden-Württemberg“, die „Musik für das Vogtland, Westsachsen und Ostthüringen“, vornehmlich und weithin vernehmlich erbrochen aus gängigen Flops der Siebziger, Achtziger und Neunziger und dem Schlechtesten von heute. Und selbst wenn man diese „Musik“ außer Acht ließe, wären die antizivilisatorischen Reflexionen in den seltensten Fällen als Wortbeiträge zu erkennen. Dazu müssten die Moderatoren mit ihrem Soziolekt aus Gebrauchtwagenhändlerlexik, Zuhälterwitzchen und humanoiden Klingeltönen semantisch und phonetisch auf der Höhe unserer Zeit sein. Doch das sind sie nicht. Und streng genommen müssen sie das in ihrem jeweiligen „Sendegebiet“ gar nicht.
Private Radiomacher sind längst eine viel machtvollere Landplage als die in dieser Beziehung auch nicht zu verachtenden Liedermacher geworden. Denn: „Bei uns gibt’s keine faulen Kompromisse.“ Und: „Wir sind von hier. Wir wissen Bescheid.“ Das glauben mittlerweile sogar die öffentlich-rechtlichen Sender, indem sie glauben „darauf reagieren“ zu müssen. Und sei es nur, die vom Privatradio gefeuerten Moderatoren mit Steuermitteln für ihren nächsten Einsatz an der Gutelaunefront aufzupäppeln.
Wenn schon Wahlen, dann darüber, ob man den Privatradios endlich wieder den Sendehahn abdrehen sollte.
MICHAEL RUDOLF