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Kunst ohne Komplexe

Tiertänze, Popcorn-Liegewiesen und Männer, die sich koalabärenhaft an Heizungsrohre klammern: Das Nachwuchsfestival Tanztage Berlin sucht nach Form und sorgt für spektakuläre Abgänge

Von Astrid Kaminski

Überall liegen Gips-, Silikon- und Wachsabgüsse von Körperteilen herum, teils werden sie sogar live abgenommen. Beckenschalen, Ohrmuscheln, aufgebrochene Knochen, Arm- und Poteile in verschiedenen Farben, manche blutrot wie frisch entnommene Organe. Das Material in Tchivetts „Hollow Matters“ hat Potenzial, die Bilderkanäle zu fluten. Schade allein, dass es dem Cast des Stücks nicht so zu gehen scheint und er sich durch diese Negativformwelt bar interessanter Kombinatorik bewegt. Das Anhalten eines Armstücks, eine Fahrt auf einem Podest, ein Selbstgespräch über Egoismus, Abgehen, Verbeugen.

So grausam es ist, das Tanzjahr so zu beginnen: Das wird ein Problembericht. Alle paar Jahre wieder ist die Frustgrenze bei den Tanztagen erreicht. Was von einem milden Auge als diskreter Charme des Unfertigen gesehen werden könnte, erscheint unter dem Verdacht bloßen Behauptens. So sind die besten Statements des Festivals die Abgänge. Immer dann, wenn ein Stück anfangen könnte, gehen die Tänzer*innen auch schon ab. Wäre es eine Sonate, wäre sie vor der Durchführung zu Ende. Wäre es ein Cappuccino, füllte der Barista den Tassenboden, und fertig. Ist doch was drin.

Am besten beherrschen das kecke Pitchen der Ex-Ballett-Solist Léonard Engel in „Pavane“, die entertainmentbejahende Nina Burkhard in „Satisfaction“ und die Lakonikerin Julia Rodríguez im programmatischen „By the time you see this, it will be gone“. Engel entwickelt seine Choreografie aus dem Gehen zwischen sechs mit Klebeband angedeuteten großen Bodenfliesen zur ironischen Ambient-Synthesizer-Komposition von Korhan Erel.

Gerade als er aus dem Schreiten nach ein paar balletthaft gefüllten Armübungen etwas unvermittelt zum stilisierten Balztanz mit Haubenkappe und Pailletten-Handschuhen übergeht, ist das Stück vorbei. Eigentlich wollte er einen neuen Blick auf das tänzerische Potenzial und die Kodifizierung von Tiertänzen werfen. Aber am einzelnen Aufriss lässt sich kaum eine Reihe von Spezies studieren.

Burkhardts „Satisfaction“ widmet sich dagegen der Spezies von Leuten jenseits der 20, die es sich trotzdem noch leisten können, sich als ihr eigenes Spielzeug zu stilisieren und vom Leben als der ultimativen Kindergeburtstagsparty träumen. Cinderella trifft auf Callboy trifft auf Clubhero. Auf der Popcorn-Liegewiese wird eine Zirkusnummer geboten, die Prinzessin futtert, statt Erbsen zu zählen, aus dem Hundenapf. Jemand singt „Non, je ne regrette rien“. Und dann noch „Young and beautiful“, aber da dünnen die Ideen auch schon aus. Bevor es zu spät ist: ab nach backstage.

Bei Julia Rodríguez ist backstage das neue Vorne. Fast kontinuierlich lässt sie ihren Cast in ihrer Flagranti-Ästhetik mit dem Rücken zum Publikum spielen oder posen. Eine interessante Ambivalenz hat es zweifellos, wenn die ikonenhaft gruppierte unheilige Familie anfängt, ihre eigene Soundkulisse zu erzeugen, bis eine Krimi- oder gar Kriegsszenerie mit Gas, Sirenen und Detonationen losgetreten wurde, in die dann laszives Alltagsgeschnatter einbricht. Oder wenn die Trias friesartig an der Rückwand festklebt: eine Sprungpose, ein Körper, der sich im Fluss gegen die Strömung an einem Ast festzuhalten scheint, und einer, der sich koalabärenhaft an die Heizungsrohre klammert.

Angeblich geht es um „Doppelagenten, Detektive und Schmuggler“. Da sich jedoch, laut Titel, alles im Moment des Anguckens schon wieder auflösen soll und die opaken Kompositionsprinzipien für den Moment durchaus Genugtuung verschaffen, ist das eigentlich egal. Aber auch hier ist das dritte Bild bereits unklar und das Abgehen ein gewagter Pakt aus Not und Tugend.

Interessant ist, dass die meisten der bisher neun Tanztage-Arbeiten stark formalisiert sind, aber trotzdem nicht zur Form finden. So führt auch Annegret Schalke, die als Performerin und Beleuchterin in den Werken anderer für einen hohen Perfektionsgrad steht, in ihrer eigenen Arbeit „Sepia“ einiges schönes Material vor, bleibt aber in ihren ästhetischen Setzungen zwischen Fisch- und Materialkunde etwas hängen. Zwar entfaltet die Raumordnung hier und da visuelle Tiefseepoesie, Dynamik und Anschlüsse jedoch nicht. Und wenn Mirjam Gurtner, nach einer zärtlichen Annäherung, Körper unabgefedert aufeinanderprallen lässt, bis sie Blutspuren hinterlassen, dann hat sie sich damit zwar an einem Prinzip des belgischen Tanztheaters versucht, jedoch keine eigene Handschrift hinterlassen.

Anjal Chande schließlich, die mit „This is how I feel today“ linke Ideologien provoziert und das rich American kid indischer Abstimmung gibt, das seine Privilegien auszunutzen weiß, hat eine Losung bereit, die jeden Problembericht unterläuft: „This is not special.“ Kunst, die immer „special“ sein wolle, habe einen Komplex. Bisher also: Ein komplexfreies Festival.

Noch bis 19. Januar

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