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Offen in die Situation gehen

Spontane Reise mit ungewissem Ausgang: Der schwedische Elektronikmusiker Sebastian Mullaert bringt in seiner Veranstaltungsreihe „Circle of Live“ im Funkhaus Nalepastraße elektronische Musik und Improvisation, erfahrene Performer und junge Künstler zusammen

Von Stephanie Grimm

Livemusik ist eine tolle Sache, die nicht zuletzt durch die Entwertung von Tonträgern in den letzten Jahren ganz neue Aufmerksamkeit erfahren hat. Aktuell wird so viel auf Konzerte gegangen wie schon lange nicht mehr, von immersiveren Erfahrungen wie Festivals oder Marathon-Raves ganz zu schweigen.

Doch wie oft sind solche Abende wirklich live im Sinne von lebendig? Oft genug folgen Livemusikerlebnisse einer festen Dramaturgie. Da erscheint es fast schon radikal, wenn ein Künstler mal auf die Zugabe verzichtet. Im besten Fall weiß der Performer, was von ihm erwartet wird, und der Zuschauer kriegt, was er erwartet. Und Tickets werden ja gerne erst gekauft, nachdem eine vergleichbare Veranstaltung dank YouTube für interessant befunden wurde.

Wie bei jeder Routine macht es also durchaus Sinn, die gängige Dramaturgie einer solchen Live-Performance auch mal aufzubrechen. Der schwedische Elektronikmusiker Sebastian Mullaert jedenfalls findet, dass beide Seiten, der Künstler und sein Publikum, dabei nur gewinnen können.

Mit seiner Veranstaltungsreihe Circle of Tour tourt er derzeit durch Europa. Das Konzept der Reihe ist, elektronische Musik und Improvisation zusammenzubringen. Bei jedem Abend finden unterschiedliche Konstellationen von Künstler zusammen, improvisieren und gucken, wo die spontane Reise hinführt. Sechs bis zehn Stunden dauert die in der Regel.

Psychologie der Improvisation

Die Auftaktveranstaltung fand im Sommer beim Freerotation-Festival in Wales statt, jetzt macht er mit dem deutschen House-Projekt Âme, dem verspielten Electro-Pop-Eklektizisten Kristofer Ström aka Ljudbilden & Piloten und dem kanadischen Techno-Produzenten Mathew Jonson im Berliner Funkhaus Station.

„Letztlich geht es bei diesen Abenden um Psychologie. Dass Improvisation zu etwas Interessantem führt, ist nicht nur eine Frage der technischen Skills, sondern auch der Bereitschaft, offen in die Situation zu gehen. Ich möchte mit den Abenden nicht nur dem Publikum ein neues Erlebnis ermöglichen, ich will auch die Künstler von dem ewigen Druck befreien, liefern zu müssen“. Und klagt über die Monotonie, die sich bei häufigem Live-Spielen auf Künstlerseite einstellt.

Bei den Circle-of-Live-Abenden ist es komplett seinen Mitmusikern selbst überlassen, wer wann in welcher Form in das Live-Set einsteigt. Halb im Scherz fügt er hinzu: „So muss ich als Gastgeber auch darauf vorbereitet sein, den Abend alleine zu bestreiten – falls alle gerade keine Lust haben.“ Dazu gekommen ist es aber noch nie.

Der 41-jährige Mullaert blickt auf gut zwanzig Jahre elektronischen Musikschaffens zurück. Als Jugendlicher lernte er noch akustische Instrumente zu spielen. Mitte der Neunziger entdeckte er dann House und Techno und war fasziniert von der Geradlinigkeit elektronischer Musik. Zusammen mit einem Freund gründete er das Minimal-affine Duo Minilogue.

„Früher war mein Zugang zu Musik, dass ich im Studio an Sounds getüftelt habe. Vor zehn Jahre fing ich an, Ideen spontan aufzunehmen, ohne viel herumzubasteln.“ Ihm wurde bewusst, dass in der Improvisation eine eigene Kraft steckt. Erst recht im Zusammenspiel mit anderen. „Es hat sich für mich zu einem positiver Trigger für Kreativität entwickelt. Wunderbare Dinge passieren wie von selbst.“

Aus eher zufälligen Kollaborationen entstand die Idee, das systematisch anzugehen. Anfang das Jahres lud er dann andere Künstler ein, an der Veranstaltungsreihe teilzunehmen. Wie findet Mullaert seine Mitstreiter, damit die Interaktion auch funktioniert? „Die Künstler für die jeweiligen Abende wähle ich mit zusammen mit den Venues und den Promotern aus. Mir geht es vor allem darum, meinen Mitmusikern komplette künstlerische Freiheit zu geben. Das klappt am besten, wenn unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen und wenn wir erfahrene Performer und junge Künstler mit frischen Ideen zusammenbringen.“

Allerdings ist es, anders als etwa bei einem Jazzkonzert, für den technisch in der Regel nicht ganz so kompetenten Besucher gar nicht so leicht, das Besondere zu erkennen, das sich durch die Improvisation ergibt. Der Gerätepark, der auf einer Bühne steht, auf der elektronische Musik entsteht, ist für das Publikum nicht selten eine Black Box.

„Ehrlich gesagt finde ich es aber gar nicht so wichtig, zu erkennen, wer genau was macht“, erklärt Mullaert, „auch wenn es natürlich spannend sein kann, nachzuvollziehen, wie die Musiker interagieren. Aber gleichzeitig hält das viele Analysieren davon ab, die Musik wirklich zu erleben.“ Davon wegzukommen, ist ihm ein zentrales Anliegen. Auch wenn sich Mullaerts Konzepte bisweilen etwas esoterisch anmuten – Erwartungen auf den Kopf zu stellen, ist meist ein Gewinn.

Anders als bisherige Veranstaltungen des Circle of Live wird der Abend im Funkhaus tatsächlich eher wie ein Konzert ablaufen. Es wird früher anfangen und auch nicht endlos gehen. Anvisiertes Ende ist 1 Uhr morgens, irgendwie muss man ja auch wieder nach Hause vom Außenposten Funkhaus in dieser kalten Winternacht.

Und dank Ljudbilden & Piloten werden auch ein paar akustische Instrumente zum Einsatz kommen, eine Trompete und eine Gitarre etwa – eine Richtung, in die Mullaert sowieso weiter denken will. Dass der Circle of Live ein Work in Progress ist, macht ja schon der Name der Veranstaltungsreihe deutlich.

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