MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER
: Wir hatten ein altes Kind

Martin Reicherts neue Kolumne über das Landleben nimmt einen traurigen Anfang

Wenn die Großmutter meines Freundes nicht gestorben wäre, hätte ich sie berühmt gemacht. Ich wollte sie zu einem gesellschaftspolitischen Star machen: Frau, Osten, alt, pflegebedürftig. Eine 93-jährige Greisin, die zudem in einem schwulen Haushalt lebt, da sie von ihrem Enkel gepflegt wird. Ich wollte über unsere generationenübergreifende „Patchwork“-Transgender-Ost-West-Großfamilie schreiben. Über die Geschichten, die sie aus ihrem langen Leben in sämtlichen deutschen Systemen erzählt hat („Das Essen im Krankenhaus war so schlecht. Liegt das an der Regierung?“), und über die Höhen und Tiefen des Zusammenlebens mit einem solchen „Golden Girl“.

Ich bin meist nur an den Wochenenden bei der Familie, die Woche über in Berlin. An einem dieser letzten Wochenenden hat die Großmutter plötzlich Scheiße gekotzt. Das passiert, wenn die Verdauung nicht mehr richtig arbeitet. Und wenn es passiert, ist es schrecklich für alle Beteiligten. Im Krankenhaus der nächsten größeren Stadt ist sie dann gestorben, Nierenversagen. Es ging dann recht schnell, das Bewusstsein hatte sie verloren. „Ich will endlich sterben und kann einfach nicht“, hatte sie immer wieder gesagt. Sie hatte so oft Schmerzen.

Ein bisschen war es so, als hätten wir ein Kind gehabt. Wir konnten nicht mehr einfach so über das Wochenende an die Ostsee fahren, selbst spazieren gehen am Nachmittag konnte zum Problem werden. Wir waren nicht mehr frei, weil mein Freund die Verantwortung für sie übernommen hatte. Ich habe ihn immer dafür bewundert und die Beschneidung unserer Unabhängigkeit akzeptiert. Auch den stets lauten Fernseher, die leeren Urinbeutel im Badezimmer, den miefigen Harzer Roller im Kühlschrank.

Für die Ausstellung des Totenscheins brauchte das Krankenhaus Großmutters Personalausweis, wir fuhren also nach Hause, um ihn zu holen. Er wäre nur noch zwei Tage gültig gewesen. Gegen Unterschrift händigte man uns ihre privaten Sachen aus. Als wir das Krankenhaus in Richtung Parkplatz verließen, ging mein Freund vor, in der linken Hand ihr kleines Bastkörbchen mit Spitzendeckchen obenauf und darin ihre Habe. Eine Tasse, eine Haarbürste, die Schatulle mit ihrem Schmuck: alles aus Plastik.

Ihre kleine silberne Glocke hatte sie offensichtlich nicht mitgenommen. Mit der hatte sie immer geklingelt, wenn sie etwas brauchte, aber in einem Krankenhaus funktioniert so etwas elektrisch, genauso wie die bescheuerte Blutdruckmessapparatur, die man ihr während des Sterbens an den Arm gebunden hatte. Die Glocke hatte den gleichen Klang wie jene, mit der ich als Kind an Heiligabend zur Bescherung gerufen wurde. Dennoch war nicht jeder Tag wie Weihnachten, mit ihr zusammen unter einem Dach zu wohnen. Sie war eine schwierige Dame.

Ein Kind entwickelt sich weiter und verlässt einen irgendwann in Richtung eigenes Leben. Die Großmutter hat einen anderen Ausgang genommen und lässt uns beide als Rumpffamilie zurück. Der Pflegebetrieb ist eingestellt. Mein Freund hat den Anblick ihres verlassenen Zimmers nicht ertragen können und hat es komplett geleert und renoviert. Demnächst wird dort mein Schreibtisch aufgestellt. Vielleicht sollte ich ihre Lebensgeschichte aufschreiben? Sie verschwindet doch sonst einfach.Vielleicht wird es auch ein Esszimmer. Wer etwas braucht, kann klingeln.

Nachdem die Großmutter gestorben und der Totenschein ausgestellt war, mussten wir trotz allem etwas essen. Wir gingen in die kleine „Speisegaststätte“, die ich mich in letzter Zeit zu betreten geweigert hatte, weil wir dort angepöbelt worden waren. Ich habe sowieso immer Angst, dass irgendwann der brandschatzende Mob vor der Tür steht. Eine Patchwork-Transgender-Familie mag in Berlin zum guten Ton gehören, aber in der brandenburgischen Provinz?

Die „Speisegaststätte“ wird von zwei liebenswürdigen Schwestern betrieben, und an diesem Abend weinten sie uns in unsere Königsberger Klopse. Sie hatten die Großmutter gern gehabt. „Ich bin mir sicher, dass sie für das, was Sie für die Großmutter getan haben, irgendwann etwas zurückbekommen“, hatte die Wirtin gesagt, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil doch nicht ich derjenige gewesen war. Hatte ich ihr genug Zeit gewidmet? Hatte ich ihr genug zugehört, selbst wenn ich ihre Geschichten bereits kannte?

Als wir nach Hause kamen in das leere Haus, meldete sich Großmutters Katze mit einem dringenden Anliegen – es ging um Leben und Tod. In einer Kiste im Wohnzimmer brachte sie an diesem Abend vier gesunde Junge zur Welt. Irgendwie muss es weitergehen.

Fragen zu den Katzen? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL