Zweifach gerettet, einfach geraubt

VON NICK REIMER

Behutsam arbeiten sich Soldaten durch den modrig-feuchten Schacht, waten durch Unrat und Wasserlachen, entschärfen Minen. Dann entdecken sie die Bilder. Vorsichtig bergen die Rotarmisten die von der Feuchtigkeit stark angegriffenen Kunstwerke. Der 1961 entstandene Spielfilm „Fünf Tage – fünf Nächte“ beschreibt feinfühlig, wie die Rote Armee nach Kriegsende die Meisterwerke der Dresdner Gemäldegalerie rettete. Regisseur Lew Arntscham legte bei den Dreharbeiten großen Wert auf Authentizität. Gedreht wurde an historischen Plätzen, unter anderem in jenem modrig-feuchten Schacht bei Rottwerndorf, in den die Dresdner 1943 ihre wertvollsten Bilder ausgelagert hatten. Zu Arntschams Erstaunen war der Schacht 1961 aber völlig trocken. Kurz entschlossen rief der Regisseur die Feuerwehr und ließ ihn unter Wasser setzen. „Dresdner Schätze der Weltkultur: Rettung und Rückgabe. 1945 bis 1955“ heißt eine Foto-Ausstellung, die heute in einer Galerie nahe der Dresdner Frauenkirche eröffnet wird. Vor 50 Jahren hatte Staatschef Nikita Chruschtschow beschlossen, den Dresdnern 1.240 ihrer Bilder zurückzugeben. „Die Rotarmisten haben oft unter Einsatz ihres Lebens die Kunst gerettet und für uns in Verwahrung genommen“, erklärte Ministerpräsident Otto Grotewohl, als er die „Heimkehrer“ in Berlin begrüßte. Nicht nur solche Szenen ruft die Schau der russischen Nachrichtenagentur Nowosti in Erinnerung. Die historischen Aufnahmen zeigen, wie Tizian, Rubens und Co. gefunden, restauriert und zurückgegeben wurden.

Keine selbstlose Rettung

Die Schau ist umstritten. Längst nämlich gilt als erwiesen, dass die Rote Armee die Dresdner Kunst nicht selbstlos rettete. Sondern einfach raubte.

„Regisseur Arntscham konnte keinen feuchten Schacht vorfinden, weil der Schacht nie feucht gewesen ist“, sagt Professor Werner Schmidt, bis Mitte der 90er-Jahre Generaldirektor der Dresdner Gemäldegalerie. „In Wirklichkeit lagerten die Bilder in einem voll klimatisierten Eisenbahnwaggon.“ Dreimal täglich wurden die Klimawerte abgelesen und notfalls korrigiert.

„Die Kunstwerke waren tatsächlich beschädigt“, sagt der russische Kunsthistoriker Konstantin Akinscha. Gemeinsam mit Gregori Koslow hat er im Zuge von Glasnost Dokumente, Akten und Unterlagen zusammengetragen, hunderte von Zeitzeugen befragt, Aussagen auf Authentizität geprüft. Die beiden Russen zeichnen ein ganz anderes Bild als Lew Arntschams Film: Schuld an den schweren Schäden der Meisterwerke waren nicht die Deutschen, sondern war die Rote Armee. Die Kunstwerke seien häufig schlecht verpackt worden. In der Sowjetunion angekommen, fehlten oft die Möglichkeiten einer fachmännischen Lagerung. Qualifizierte Leute fehlten sowieso. Aus einem Transportflugzeug, das in Kiew zwischenlandete, sei beispielsweise ein Triptychon von Albrecht Dürer auf der Rollbahn abgelegt worden. Erst drei Tage später wurde sein „Dresdner Altar“ – eine Malerei auf feinem Leinen – geborgen, jetzt tatsächlich mit Wasserschäden.

Davon berichtet die Fotoausstellung, die heute eröffnet wird, natürlich nicht. Genauso wenig wie von Stalins Befehl: Der hatte am 26. Juni 1945 angeordnet, die 2.000 wertvollsten Werke aus Dresden in die Sowjetunion zu bringen. Stalins Ziel: ein Weltmuseum für Kunst. Im Ausland immer mit den Adjektiven „proletarisch“ und „kulturlos“ versehen, gedachte Väterchen Stalin sein Sowjetreich in ein anderes Licht zu rücken. Betraut mit den Planungen des Weltmuseums: der damalige Direktor des Puschkin-Museums, Sergei Merkurow. Mindestens 746 Gemälde aus Dresden versteckte Merkurow im Puschkin-Museum. Irina Antonowa, eine Nachfolgerin Merkurows, wird heute die Nowosti-Ausstellung eröffnen. Das ist besonders pikant. Denn die heutige Puschkin-Direktorin war nach dem Krieg selbst Mitglied von Stalins Trophäenkommission, also jener Abteilung der Roten Armee, die für das Weltmuseum in Deutschland Kunstwerke raubte. Und bis heute lagern in Antonowas Depots einmalige Kunstwerke: der Schatz des Priamos etwa, Teile der Dresdner Porzellansammlung, hunderttausende Druckgrafiken, wissenschaftliche Bibliotheken. „Zweifach gerettet“ hieß vor zehn Jahren eine Ausstellung im Moskauer Puschkin-Museum. Das ist die offizielle russische Geschichtsschreibung: Vor 60 Jahren hat die Rote Armee die Welt nicht nur von der deutschen Barbarei befreit, sondern auch Weltkultur gerettet. „Die Restaurationswerkstätten ähnelten einem Lazarett“, erinnert sich Irina Antonowa. „Fast alle Gemälde aus Deutschland trugen einen Verband: Schutzaufkleber an beschädigten Stellen.“ Immerhin ein Fortschritt: Bis Anfang der 90er-Jahre redete Antonowa nicht gern über ihre Beutekunst. Dann aber redete sie sehr viel darüber: Die Direktorin des Puschkin-Museums wurde zur wichtigsten Unterhändlerin im diplomatischen Tauziehen. Ihre Verhandlungsposition umriss Antonowa einmal so: „Wer Bomben auf Museen wirft, soll mit der eigenen Kultur dafür haften.“ Antonowas Widerpart war Werner Schmidt, Direktor der Dresdner Gemäldegalerie. Schmidt, der nach dem Krieg eine Zeit lang in Moskau lebte, argumentierte mit der Haager Landkriegsordnung (siehe Kasten). Schmidt verlor: Die Duma erklärt 1996 Beutekunst per Gesetz zum Eigentum Russlands. Während sich Schmidt zurückzog, kommt Siegerin Antonowa nun auf Einladung seines Nachfolgers Martin Roth nach Dresden. „Niemand trägt am Chanelkostüm den Leninorden dekorativer als Antonowa“, sagt er. Irina Antonowa ist für Roth eine Vertreterin des frühen sowjetischen Kosmopolismus. „Mir gibt es in Deutschland zu viele, die zum Adenauer der Kunst avancieren wollen“, sagt Roth. Wichtiger als „die letzten ‚Kriegsgefangenen‘ nach Hause zu holen“, ist für den Direktor der Dresdner Gemäldegalerie, dass die Bestände gut gelagert, gut restauriert und dann gezeigt werden. Das brauche Geld und Kooperation: „Russische Museen haben es viel schwerer als wir.“ So müsste etwa die Moskauer Tretjakow-Galerie 80 Prozent ihrer Ausgaben selbst einspielen, Dresden nur 40 Prozent. Muss aber deshalb der Hardlinerin Antonowa eine Plattform geboten werden, die ganz falsche Geschichtsschreibung zementiert? „Jeder kann heutzutage eine Fotoausstellung machen“, sagt Roth gelassen zur Nowosti-Schau, mit der sein Haus nichts zu tun hat. „Ist es angebracht, wird die Presse schon kritisch berichten.“

Auch wenn Roth die Schau herunterspielt: Sie ist ein Politikum. September 2004, Gerhard Schröder will nach Moskau zum Staatsbesuch aufbrechen. Diplomatische Kreise haben den Bundeskanzler vorgewarnt: Wladimir Putin wird ihn bitten, die Sixtinische Madonna auszuleihen. Putin gedenkt sie zum 60. Jahrestag des Sieges über Deutschland im Puschkin-Museum zur Schau zu stellen. Die berühmteste Madonna der Welt käme an den Platz ihrer Rettung zurück. Es kommt nicht zum Staatsbesuch.

Einer Legende wird gehuldigt

Putin bittet seinen Duzfreund Schröder dann beim Staatsbesuch in Deutschland um die Madonna. Auch beim Bundespräsidenten Horst Köhler und sogar bei Kulturstaatssekretärin Christine Weiss wird er vorstellig. Trotzdem muss die Sonderausstellung des Puschkin-Museums ohne das Dresdner Gemälde auskommen. Stattdessen zeigt Irina Antonowa in ihrer Ausstellung „Archäologie des Krieges. Rückkehr aus dem Nichts“ Bestände aus den Antikensammlungen Berliner Museen. „Russische Fachleute haben in jahrelanger Arbeit die von deutschen SS-Leuten zerstörten Statuen und Fresken wieder zusammengesetzt“, so Antonowa. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz weist Antonowas Darstellung zurück. Unversehrt seien die Depots den Sowjets übergeben worden.

Während sich also Berlin gegen Antonowas Rettungstaten wehrt, huldigt die Fotoausstellung in Dresden denselben. Was noch an Beutekunst aus Dresden, Berlin, Potsdam, Bremen oder Weimar in Geheimdepots lagert, das weiß Irina Antonowa. „Geduld“, empfiehlt Werner Schmidt und spielt damit auf Antonowas Alter an: 84. Er selbst ist 75.

Martin Roth hält nichts von „dieser Lösung“. Antonowa sei Zeitzeugin und deshalb wichtig. „Es gibt in Deutschlands Museen keine Kultur der Bestandsforschung, wir wissen viel zu wenig“, sagt Roth. Deshalb hat er in der Dresdner Galerie eine Forschungsstelle eingerichtet. Mit Antonowa will er heute ein Forschungsprojekt anschieben.

Voll klimatisiert war nur ein Teil der ausgelagerten Dresdner Bilder. Der andere Teil lagerte in einem Kalkbergwerk. Neue Forschungen belegen, dass sie dort tatsächlich Wasserschäden hatten.