piwik no script img

Archiv-Artikel

Krankenversicherte sollen mehr zahlen

REFORM II Die Koalition ist sich beim Thema Gesundheit weitgehend einig. Arbeitnehmer müssen mit höheren Beiträgen rechnen. Private Versicherer profitieren hingegen, ebenso Ärzte und Apotheker

BERLIN taz | Der entscheidende Satz zur Gesundheit steht ab Zeile 816 des Vertragsentwurfs. Dort schreiben die Koalitionsverhandler: „Die Finanzierung muss weitgehend von den Arbeitskosten entkoppelt werden.“ In diesem Satz steckt sehr viel von dem, was Union und FDP in den kommenden Jahren mit dem Gesundheitssystem vorhaben. Er besagt: Die steigenden Kosten für medizinische Versorgung werden vor allem Arbeitnehmer mit zusätzlichen Beiträgen begleichen und Bürger mit ihren Steuergeldern. Allein bei der Frage, wie diese Zusatzbeiträge zustande kommen sollen, streiten die Regierungspartner noch.

Einig sind sich CDU, CSU und FDP darin, die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitgeber einzufrieren. Sie liegen derzeit bei 7 Prozent des Bruttolohns. Arbeitnehmer zahlen derzeit 7,9 Prozent ihres beitragspflichtigen Einkommens in die gesetzliche Krankenversicherung. Sie sollen die steigenden Kosten im Gesundheitswesen künftig weitgehend allein zahlen.

Die CDU will dafür den Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung anheben, den Kassen bei Bedarf von ihren Mitgliedern fordern dürfen: von derzeit 1 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens, also rund 36 Euro, auf 2 Prozent, also monatlich 72 Euro extra. Bislang nutzt diese Möglichkeit nur eine von 186 Kassen. Fachpolitiker gehen aber davon aus, dass im kommenden Jahr viele Kassen diesen Rettungsanker ergreifen werden.

Die FDP will noch einen Schritt weiter gehen: Die Kassen sollen die Höhe ihrer Mitgliedsbeiträge wieder selbst bestimmen dürfen.

Derzeit führt ein kompliziertes Verfahren dazu, dass Kassen, die viele Mitglieder mit bestimmten chronischen Krankheiten haben, einen finanziellen Ausgleich bekommen. Das ist der „morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“, kurz „Morbi-RSA“. Dieser soll laut Entwurf des Koalitionsvertrags „auf das notwendige Maß reduziert“ werden. Das würde bedeuten: Kassen mit vielen Menschen, deren Leiden im Umlageverfahren nicht berücksichtigt werden, haben wieder einen Wettbewerbsnachteil. Überdurchschnittlich viele chronisch Kranke betreut die AOK.

Die privaten Versicherer können sich freuen. Die Koalition will die dreijährige Wartefrist für einen Wechsel von einer gesetzlichen in eine private Kasse auf ein Jahr verkürzen. Dies würde den Privaten wieder mehr junge Gutverdiener zuführen, die in den vergangenen Jahren immer häufiger ausblieben.

Auch niedergelassene Ärzte gelten als Profiteure der Gesundheitspläne. Medizinische Versorgungszentren (MVZ), also Arztverbünde nach dem Vorbild der einstigen Polikliniken, „sollen nur unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden“. Damit nimmt Schwarz-Gelb eine Reform der Nochbundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zurück. Sie wollte MVZ und Kliniken die ambulante Versorgung erleichtern und den niedergelassenen Ärzten so Konkurrenz machen.

Apothekern soll ebenfalls geholfen werden. „Auswüchse im Versandhandel“ mit Medikamenten wollen die Koalitionäre, die andernorts Wettbewerb propagieren, „bekämpfen“.

Ein Trostpflaster stellt Schwarz-Gelb Versicherten in Aussicht: Die Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal werde „überprüft“ und eventuell „ersetzt“.

MATTHIAS LOHRE