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Archiv-Artikel

berliner szenen Berlin liegt am Meer

Untergangsshow

Seit kurzem fahre ich aus Gründen, die nichts zur Sache tun, regelmäßig über die Modersohnbrücke in Friedrichshain. Bei schönem Wetter tummeln sich dort abends unheimlich viele Menschen und blicken kollektiv in Richtung Fernsehturm am Alexanderplatz. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was das nun wieder für eine komische Berliner Gepflogenheit sein soll, bis ich kapiert habe, dass es darum geht, den Sonnenuntergang über Berlin herbeizusehnen.

Man sitzt hier also herum, am besten in Zweiergrüppchen, und imitiert das Verliebtenritual, das man aus dem Urlaub kennt. „Weißt du noch, damals auf Gomera im Valle Gran Rey vor der Casa María? Wie der feuerrote Ball irgendwann im Meer versank und wir uns küssten?“ Klar, warum sollte der gemeinsam erlebte Sonnenuntergang in Berlin nicht genauso schön sein wie der in der idyllischen Fremde? Auf der Modersohnbrücke kann man einen filmreifen Blick über die Stadt erleben; und das unendliche Meer, das angeblich unbedingt zum Erlebnis der perfekten Sonnenuntergangsshow dazugehört, wird bestens durch das Schienennetz ersetzt, das sich unter und vor einem ausbreitet. Genau wie das Meer verspricht es ewige Weite, Züge rauschen auf ihm vorbei wie Wellen und mit ein bisschen Fantasie kann man sich vorstellen, dass die nächste S-Bahn nicht bloß zum Bahnhof Zoo fährt.

Und zur Arbeit muss man am nächsten Tag dann auch nicht, so stellt man sich das zumindest vor. Eigentlich muss man nie wieder zur Arbeit, so wenig wie man noch einen Urlaub braucht, um mal abends auf Gomera vor der Casa María herumzuhocken. Denn man hat hier ja alles vor der Haustüre, und Jeans Team haben Recht: Berlin liegt am Meer.ANDREAS HARTMANN