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american pieBoss aus der Landesliga

Julian Gressel läuft in der Major Soccer League Bastian Schweinsteiger den Rang ab, weil er beim Titelkandidaten Atlanta United FC hervorsticht

Was treibt Bastian Schweinsteiger eigentlich so? Zuletzt ist er Vater geworden. Und er hat jetzt auch viel Zeit für den Nachwuchs: Sein Klub Chicago Fire landete im Tabellenkeller der Major League Soccer (MLS), der Kampf um den Titel, der – wie in den USA üblich – in Playoffs ausgespielt wird, findet ohne den Weltmeister statt.

Aber nicht ohne prominente deutsche Beteiligung. Jedenfalls von der gegenüberliegenden Seite des großen Teichs aus betrachtet. Denn in den USA ist Julian Gressel gerade dabei, der Legende Schweinsteiger, die er immer noch als seinen „Lieblingsspieler“ bezeichnet, den Rang abzulaufen. Der 24-Jährige Franke ist eine der zentralen Figuren im Spiel von Atlanta United FC, die auf dem besten Wege sind, das Finale der MLS zu erreichen.

Julian Who? Gressel ist in Neustadt an der Aisch geboren und kickte in Deutschland zuletzt für seinen Heimatverein in der dortigen Landesliga Bayern Nordwest. Dann entschied sich der damals 19-Jährige für einen außergewöhnlichen Weg: Gressel nahm ein Stipendium des Providence College in Rhode Island an. Er spielte vier Jahre sehr erfolgreich für die Friars und wurde im MLS-Draft 2017 als achter Nachwuchsspieler von Atlanta ausgewählt.

Im Halbfinal-Hinspiel, das Atlanta 3:0 am Sonntag gegen das von einem internationalen Brausehersteller gesponserte Team aus New York gewann, glänzte Gressel wieder einmal mit schlauen Pässen, einer Torvorlage und gewonnenen Zweikämpfen. „3:0 feels pretty good“, freute er sich. Am Donnerstag steht das Rückspiel an. Sollte New York da kein Wunder gelingen, würde das Finale gegen Portland oder Kansas City am 9. Dezember dann wieder in Atlanta stattfinden.

Unangefochtener Star von United FC ist zwar Angreifer Josef Martínez, der mit bisher 34 Toren und großem Vorsprung die Torschützenliste anführt, aber selbst der Venezolaner sagt über Gressel: „He’s the boss.“ Gressel besitzt Qualitäten, die ihn zum, wie es US-Kommentatoren gern bezeichnen, „emotional leader“ der Mannschaft machen. Außerdem ist der gelernte Mittelfeldspieler die taktische Allzweckwaffe des argentinischen Trainers Gerardo „Tata“ Martino. Ob in der Abwehr oder auf dem Flügel, links oder rechts, Gressel stand in dieser Saison bis auf ein einziges Spiel in der Anfangsformation von Gerardo, der schon den FC Barcelona und die argentinische Nationalmannschaft trainiert hat und demnächst wohl die mexikanische Nationalmannschaft übernehmen wird.

Gressel ist in Atlanta auch deshalb eine prägende Figur, weil er in dem Verein ist, seit der Klub in der MLS spielt. Im Premierenjahr stellten die „Five Stripes“, wie sie von den Fans genannt werden, neue Zuschauerrekorde für die MLS auf, und Gressel gewann mit riesigem Vorsprung die Wahl zum „Rookie of the Year“. In dieser, der zweiten Saison für ihn und den Klub, reifte Gressel endgültig zum Leistungsträger in einer Mannschaft, die lange die Tabellenspitze hielt. In das nach einem schwäbischen Automobilhersteller benannte Stadion, das sonst das NFL-Team Atlanta Falcons füllt, kamen während der regulären Saison im Schnitt mehr als 53.000 Fans, mit Abstand der Spitzenwert in einer Liga mit einem Zuschauerdurchschnitt von unter 22.000.

Zur Halbfinal-Begegnung waren mehr als 70.000 Fans gekommen, die eine sehr beeindruckende Choreografie aufführten. Für die Fußballbegeisterung gibt es drei Gründe: In Atlanta leben mehr Migranten aus Lateinamerika als sonst irgendwo im Südosten der USA. Die anderen Profiteams der Stadt glänzen seit Jahren nicht gerade mit großen Erfolgen. Und der Klub hat von Anfang nicht auf Altstars aus den europäischen Spitzenligen gesetzt, sondern auf hungrige Nachwuchsspieler – und damit die Identifikationkraft erhöht. Ein in der ganzen Liga unübersehbarer Trend: Nicht nur Schweinsteiger, auch Zlatan Ibrahimovic, Wayne Rooney oder David Villa sind nicht im Halbfinale dabei.

Dass man deshalb eher ein Ausbildungsverein ist, nimmt Atlanta in Kauf. Martinez wird auf Dauer kaum zu halten sein. Und auch Gressel träumt von der Bundesliga. „Das ultimative Ziel ist immer noch, in einer der großen europäischen Ligen zu spielen“, sagte er dem Magazin 11 Freunde. Manch ein Reporter aus der Heimat fragt sogar, ob der Bundestrainer schon Kontakt aufgenommen habe. Noch nicht, aber, sagt Gressel nur halb im Scherz: „Mein Telefon ist immer auf laut, also kann Jogi gerne mal durchrufen.“ Thomas Winkler

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