Mit und ohne Anführungszeichen

Der Historiker Karl Schlögel sprach an der Humboldt-Universität Berlin über Russland-Versteher

Er ist mit Preisen überhäuft – zuletzt geehrt mit dem Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste und dem Preis der Leipziger Buchmesse („Das sowjetische Jahrhundert“). 2013 wurde Karl Schlögel, Deutschlands renommiertester Osteuropahistoriker, auch eine der höchsten Auszeichnungen aus Russland verliehen, die Puschkin-Medaille, die er wegen der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 aber ablehnte. Was folgte, war eine Auszeichnung anderer Art: Das neue Leitmedium, Russia Today, schimpfte ausgerechnet ihn, der auf allen Ebenen der Beobachtung, Partizipation und Beschreibung den Versuch des Russland-Verstehens lebt, einen „intellektuellen Elitesoldaten der Nato“.

Fast beiläufig erwähnt Schlögel diese Diffamierung am Donnerstag in seiner „Mosse-Lecture“ an der Humboldt-Universität Berlin und wertet sie als Symptom des neuen Großmachtchauvinismus. Im Übrigen gehöre es zu einem seiner größten Versäumnisse als Historiker, die Mechanismen von Armeen schlecht zu kennen. Von wegen Elitesoldat. Dass Schlögel bei der Selbstkritik beginnt und nicht auf den Zug der Polemik aufspringt, ist angesichts der Schärfe des politisch-rhetorischen Kampfsports, zu dem Osteuropageschichte aktuell wieder geworden ist, sein größtes Verdienst. Die Lecture wird zur Sternstunde demokratischer Haltung.

Das beginnt bei der Erklärung des Titels. „Russland-Versteher – Wenn es doch welche gäbe“. Denn, klar, es gibt sie. Viele sogar, echte, solche ohne Anführungszeichen. Einem von ihnen widmet er seinen Vortrag: dem kürzlich verstorbenen Walter Laqueur. Aber auch andere zitiert er, verweist auf sie, regt zu Übersetzung, Lektüre und Nachahmung an: Masha Gessen („Die Zukunft ist Geschichte“), Soziologe Lew Gudkow; Władimir Pribyłowskis Studien zur Kleptokratie und den minutiös rekonstruierten Biografien der einflussreichsten russischen Politiker. Auch Peter Pomerantsevs Analysen der Medienhydra des Kremls und des „Information War“ empfiehlt Schlögel. Und nicht zuletzt seinen Diskussionspartner am Mosse-Abend, den Schweizer Slawisten Ulrich Schmid, der mit „Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ eines der kenntnisreichsten Bücher über den Wandel der Machtapparaturen in Putins Russland vorgelegt hat.

Das Schmid-Buch lesen und eine Woche russisches TV schauen – das seien zwei angebrachte Aufgaben für diejenigen, die Russland wirklich verstehen wollen. Eine konsequente Empfehlung von jemandem, dessen eigene Praxis Aufklärung nicht als Top-down-Applikation abstrakter Konzepte versteht, sondern – gerade in Zeiten „externer Operationen“ – als Analyse „interner Dynamiken“. Diese führt Schlögel vor, berichtet vom Moskau der fünf Flughäfen, von denen aus ein Sich-in-der-Welt-Umsehen möglich ist wie noch nie (ergo: die neuen Grenzziehungen stehen gelebter Entgrenzung gegenüber), erzählt von den Bücherläden als Barometer des Zeitgeists, die sich die mediale Welt aber teilen, mit einer Fernsehlandschaft eben, die radikale Hetzredner wie Wladimir Solowjow oder Dmitri Kisseljow als Moderatoren hofiere. Dieser Skizze der möglichen parallelen Leben fügt Schlögel auch Putins Verblüffungsrhetorik hinzu und die ideologische Amalgamierung von russischen, russländischen und (ex-)sowjetischen Agenden. Das alles sei verblüffend, das alles gelte es zu verstehen. Den eigenen Bestürzungen auf die Spur kommen, darum geht es.

Ein flanierender Kulturhistoriker ist Schlögel. Bescheiden im Ton, entschieden in der Position. Und präzise im Blick, den er auch auf die Millionen migrantischen Arbeiter*innen richtet, die die Metropole Moskau und ihren irren Reichtum aufrechterhalten, im Dunkel operierend. Sie sind für ihn die eigentlichen „Helden der Krisenbewältigung“, sie wünscht er sich auf dem „Radar der Transformationsforschung“, und mit ihnen „die blau-rot-weiß-karierte Polyethylentasche“, „Ikone von Elend und Not“, aber auch der „Globalisierung von unten“.

Dem Dunkel des gelebten Augenblicks, der unübersichtlichen Gegenwart und der permanenten Selbstreflexion soll politisch bewusste Forschung sich widmen: Gelebtes Russlandverstehen, ohne Anführungszeichen. Ihm wurden in Ulrich Schmids forschem Schlussplädoyer die Russland-Versteher (mit Anführungszeichen) gegenübergestellt. Gleich zwei Ex-Bundeskanzler (Schmidt, Schröder) gehören zum illustren Kreis derer, die Russland mit Putin gleichsetzen. Eine deutsche Besonderheit.Barbara Wurm