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„Sie haben Papa abgeholt“

Wilhelm Simonsohn war während der Novemberpogrome als Soldat in Schleswig stationiert. Am 9. November wurde sein Vater ins KZ Oranienburg/Sachsenhausen gebracht

Am 9. oder 10. November 1938 bekam ich als frisch eingezogener Soldat ein Telegramm meiner Mutter: „Sie haben Papa abgeholt.“ Mein Papa war eigentlich mein Adoptivvater, ein deutsch-national gesinnter und zum Christentum konvertierter Jude, der deutscher sein wollte als deutsch. Er war so deutsch, dass er am liebsten rechts von sich selbst gestanden hätte. Diesen Typ Mensch gab es in Deutschland auch häufiger.

Ich erfuhr erst mit 15 Jahren, dass meine Mutter und mein Vater eigentlich meine Adoptiveltern waren. Ich war damals in der Marine-Hitlerjugend und im Streit beschimpfte mich jemand mal als Judenlümmel. Und Kommunist oder Jude zu sein, waren die schlimmsten Dinge im Nationalsozialismus. Dann ging ich zu meinem Vater und fragte, wie können die mich als Judenlümmel beschimpfen? Da schickte er mich zur Kirchengemeinde in Hamburg-Bahrenfeld und der Pastor eröffnete mir, dass meine Eltern nur Adoptiveltern wären und mein Adoptivvater Jude sei. Da brach eine Welt für mich zusammen.

Ich war im November 1938 in Schleswig stationiert und gerade mal eine Woche Soldat und konnte noch nicht richtig grüßen und all diese Rituale. Ich habe mit einem Unteroffizier in dieser Nacht noch das Grüßen auf dem Korridor geübt.

Mit diesem Telegramm ging ich dann zum Kompaniechef und erbat einen Sonderurlaub. Drei Tage wurden mir gewährt, mit dem Bewusstsein, dass mein ­Adoptivvater Jude war.

Ich habe dann an den Gauleiter einen Brief geschrieben und Urkunden meines Vaters diesem Brief beigefügt. Ich habe versucht, das Deutsche, Nationale und das Christentum meines Vaters in den Vordergrund zu stellen. Ich bin dann nach Hamburg-Altona und mein Gesprächspartner, ein Gauhauptstellenamtsleiter, die Bezeichnung habe ich nie vergessen, hat sich das eigentlich ganz wohlwollend angehört. Ich war ja auch immer arisch. Ich war ja nicht belastet. Nach dem Nürnberger Gesetz war ich sozusagen ein arischer Jude, das kam sehr selten vor.

Dass mein Vater abgeholt wird, war auch die ständige Befürchtung meiner Mutter. Am 9. November 1938 wurde er in das Konzentrationslager Oranienburg/Sachsenhausen gebracht. Meine Mutter war total untröstlich. In Hamburg konnte ich mich etwas um sie kümmern und brachte sie zur Altonaer Kirchengemeinde, wo im Gegensatz zur Bahrenfelder Gemeinde Juden nicht ausgegrenzt wurden.

Nach den Nürnberger Gesetzen galt die Ehe zwischen meinen Eltern ja als Mischehe. Da ich nur ­adoptiert wurde, hatte ich nie Probleme. Ich ließ meine Mutter also in den besten Händen der Gemeinde und bin zur Truppe zurückgefahren.

Die Pogrome vor Ort habe ich damals selbst nicht erlebt. Ich war ja nicht da. Das Kohlengeschäft meines Vaters ging schon 1935 durch die Boykottmaßnahmen pleite. Ein Kohlenlager hat auch keine Fensterscheiben. Er arbeitete kurze Zeit noch bei einer Reederei als Kapitän und als Nachtwächter. Ich habe allerdings gehört, dass am Geschäft vom Schwager meines Vaters in Rothenburgsort mit Farbe ein Judenstern rangepinselt wurde.

Im Dezember 1938 bekam ich regulär Urlaub und dann war mein Vater wieder da. Er war inzwischen arbeitslos geworden, wir hatten keine Einnahmen und waren sozial ziemlich am Ende. Er war früher immer ein fröhlicher Typ, der immer Optimismus ausstrahlte und sagte: „Man kennt ja meine politische Gesinnung. Mich holt man nicht.“ Mein Vater war offenbar so naiv und glaubte, das mit den Nazis geht bald vorüber, dann kommen andere Zeiten. Seine Geschwister sind 1935 schon in die USA ausgewandert.

Nach dem KZ-Aufenthalt war mein Vater ein gebrochener Mann. Als er aus dem KZ kam, hatte man sein Haupthaar und seinen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Bart geschoren. Sein Gesicht erschien mir aufgedunsen. Er war überhaupt nicht mehr ansprechbar und hat nichts erzählt. Das kann ich mir nur so erklären, dass er mit auf den Weg bekommen hat, wenn er irgendwas erzählt, wird er wieder eingelocht und zwar für immer. Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein Mensch in seiner Wesensart so sehr verändert hat. Seine Welt war zusammengebrochen.

Ein Jahr nach seiner Entlassung aus dem KZ ist mein Vater dann an einem Asthmaleiden verstorben. Die Krankheit wurde nach dem Krieg als direkte Folge des KZ-Aufenthalts anerkannt.

Ich schlief auf einem Drahtgestell in der Küche, mein Vater in einem anderem Raum und meine Mutter im Wohnzimmer. Mein Vater hatte diesen röchelnden Atem, der hörbar war. Und Weihnachten 1939 hörte das Röcheln in der Nacht auf. Ich bin dadurch wach geworden und habe festgestellt, dass mein Vater gestorben war. Die Altonaer Gemeinde setzte sich dafür ein, dass er im Familiengrab meiner Stiefmutter beerdigt werden konnte. Mein Vater hat in der Siedlung, in der wir gelebt haben, einen eigenen Stolperstein. Protokoll: Philipp Effenberger

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