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Archiv-Artikel

Das Eigentor des Werner Schulz

Mit ihrer Klage gegen die Neuwahl haben die Abgeordneten Schulz und Hoffmann nichts erreicht. Im Gegenteil, der Spielraum des Kanzlers wird größer

VON CHRISTIAN RATH

Werner Schulz und Jelena Hoffmann haben allen Grund unzufrieden zu sein. Die beiden Abgeordneten hatten in Karlsruhe gegen die vorgezogenen Neuwahlen geklagt und haben nichts erreicht. Weder konnten sie die Auflösung des Bundestags verhindern noch hat das Verfassungsgericht die Hürden für künftige Vertrauensabstimmungen höher gelegt. Im Gegenteil: Karlsruhe hat dem Kanzler auf dem Weg zu Neuwahlen noch mehr Freiheit gewährt und die eigene richterliche Kontrolle noch weiter zurückgenommen. Damit haben die Kläger ein Eigentor geschossen.

Im Kern ging es gestern um zwei Fragen: Kann der Kanzler durch eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage, wie am 1. Juli im Bundestag, eine vorgezogene Neuwahl anstreben? Und wie stark wird er dabei vom Verfassungsgericht kontrolliert? Die Antwort fiel eindeutig aus: Der Kanzler darf mit einer inszenierten Vertrauensabstimmung nur dann Neuwahlen auslösen, wenn eine „politische Lage der Instabilität“ besteht, wenn also er sich seiner Parlamentsmehrheit nicht mehr sicher sein kann. Wie es mit der Stabilität aussieht, soll aber zunächst der Kanzler beurteilen, der hier einen „Beurteilungsspielraum“ habe. Diesen Spielraum muss auch das Bundesverfassungsgericht achten, immerhin hätten sich vor ihm schon „drei Verfassungsorgane“ – Kanzler, Bundestag und Bundespräsident – mit der Sache befasst.

Damit folgte das Gericht seiner eigenen Linie aus dem Jahr 1983, als es um ein ähnliches Manöver von Kanzler Helmut Kohl ging. „Wir haben daran nichts Fundamentales verändert“, sagte eingangs der Senatsvorsitzende Winfried Hassemer, „manches formulieren wir aber selbstbewusster als damals.“

Künftig gilt: Die Beurteilung des Kanzlers ist nur dann zu widerlegen, wenn „Tatsachen keinen anderen Schluss zulassen“ als den, dass der Kanzler mit seiner Einschätzung völlig danebenliegt. Karlsruhe kann also nur noch bei offensichtlichem Missbrauch der Vertrauensfrage einschreiten.

Einen Missbrauch hatte Werner Schulz zwar bei der mündlichen Verhandlung kritisiert: „Der Kanzler hat keinerlei Beweise vorgelegt, dass er die Mehrheit verloren hatte“, so argumentierte Schulz damals. Doch er musste sich gestern vom liebenswürdigen, aber mitleidlosen Vorsitzenden eine „naive Betrachtungsweise“ vorhalten lassen.

Die Einschätzung des Kanzlers habe „Prognosecharakter“, sei also in die Zukunft gerichtet, erklärte Hassemer. Der Hinweis auf die bisher stets vorhandene rot-grüne Mehrheit genüge deshalb nicht. Der Kanzler müsse es auch nicht auf ein „endgültiges Zerwürfnis“ mit seiner Mehrheit ankommen lassen, sondern könne reagieren, bevor das Verhältnis „irreparabel“ werde. Was den Kanzler genau zu seiner Einschätzung bewege, müsse er dabei weder den Abgeordneten noch dem Verfassungsgericht offenbaren. Eine „Erosion des Vertrauens“ sei ohnehin, vor allem wenn sie nicht offen gezeigt werde, im Gerichtsverfahren nicht einfach festzustellen. Es genüge, dass die Einschätzung des Kanzlers „plausibel“ sei.

Unterm Strich könnte man die neuen Maßstäbe so zusammenfassen: Immer wenn der Kanzler nur eine knappe Mehrheit im Parlament hat und er außerdem politische Schwierigkeiten spürt, kann er künftig Neuwahlen anstreben, ohne mit einem Stopp-Ruf aus Karlsruhe rechnen zu müssen.

Kein Wunder, dass das Gericht auch an den konkreten Vorgängen des Jahres 2005 keine Kritik übte. Schröder habe für seine Einschätzung der Kräfteverhältnisse im Parlament „Tatsachen“ benannt, referierte Richter Di Fabio: zum einen die heftigen Debatten in der SPD über die Agenda 2010, zum anderen die Verluste seiner Partei bei verschiedenen Wahlen. Parteichef Müntefering habe als „zusätzliche Tatsache“ mitgeteilt, dass er Schröder schon vor der NRW-Wahl von seinen Sorgen um die Handlungsfähigkeit der Regierung berichtet habe. Zwar hatte Müntefering am 1. Juli im Bundestag erklärt, der Kanzler habe weiter das Vertrauen der Fraktion. Damit sei der Vertrauenszweifel des Kanzlers jedoch nicht widerlegt, so Di Fabio, weil es bei Münteferings Äußerung nur um die Person des Kanzlers, aber aber nicht um dessen Politik gegangen sei. Die Klage von Schulz und Hoffmann sei deshalb „unbegründet“.

Sieben von acht Richtern stellten sich hinter dieses Ergebnis. Nur der konservative Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch hielt die vorgezogene Neuwahl für unzulässig. Als er sein Sondervotum vortrug, konnten sich endlich auch Wolfgang Schulz und Jelena Hoffmann etwas entspannen, denn er übernahm fast all ihre Argumente. „Es gibt keine sichtbar gewordenen oder nachprüfbaren Anhaltspunkte“ dafür, dass rot-grüne Abgeordnete mit abweichendem Stimmverhalten drohten, kritisierte Jentsch. Schröders „Instrumentalisierung der Vertrauensfrage“ habe die gewählten Abgeordneten geschwächt.

Ein zweites Sondervotum der linken Richterin Gertrude Lübbe-Wolff ging in eine ganz andere Richtung. Sie schlug vor, künftig die taktische Vertrauensfrage uneingeschränkt zuzulassen. Auf Karlsruher „Kontrollinszenierungen“ könne gut verzichtet werden, wenn dem Kanzler eh großer Einschätzungsspielraum zugebilligt werde. Am Ende trug Lübbe-Wolff jedoch das Ergebnis der Mehrheit mit.

In dem Urteil, dessen vollständiger Text noch nicht vorliegt, findet sich bisher keine Aussage zur möglichen Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestags. Ob eine Verfassungsänderung sinnvoll wäre, überlassen die Richter ganz den Parlamentariern.