: Den Dingen einen neuen Zauber
WÜRDIGUNG Vor hundert Jahren wurde der Filmregisseur Michelangelo Antonioni geboren
VON MICHAEL FREERIX
Vor einigen Jahren war ich zufällig in Rom und suchte etwas, was ich verloren hatte (ich verbringe einen großen Teil meiner Zeit mit Suchen). Als ich aufblickte, sah ich einen Mann aus dem Gebäude herauskommen, in dem Bowling gespielt wird. Die Art, wie er zum Auto ging, wartete, bevor er die Wagentür öffnete, und dann einstieg, war ungewöhnlich. Und so fuhr ich ihm nach.“ So beschreibt Michelangelo Antonioni einen Moment in seinem Leben, der auch der Anfang zu einem seiner Filme sein könnte. Hier aber nur der Anfang einer Filmerzählung ist, die 1985 unter dem Titel „Bowling am Tiber“ veröffentlicht wurde.
Es ist dieses Beiläufige, das Antonioni zu einer neuen Filmästhetik verdichtete, indem er es an real existierenden Orten inszenierte. Er revolutionierte das narrative Kino, indem er es von literarischen Erzählkonventionen befreite und eine kontemplative Dramaturgie schuf. Das machte ihn zu einem der bedeutendsten Filmemacher der Moderne. In den sechziger Jahren hat er immer wieder über das Lebensgefühl seiner Zeit gearbeitet.
Michelangelo Antonioni wurde vor einhundert Jahren, am 29. September 1912, in Ferrara, einer Stadt in der Po-Ebene, geboren; er starb am 30. Juli 2007 in Rom. In Ferraras historischer Stadtarchitektur, umgrenzt von landwirtschaftlichen Nutzflächen, verlebt er eine Kindheit, von der er sagt, sie sei „sehr glücklich gewesen“. Ständig sei er mit seinem Bruder draußen gewesen und habe mit den anderen Kindern gespielt. Diese waren Arbeiterkinder, „was man an ihrer ärmlichen Kleidung sehen konnte“. Auch Antonionis Mutter entstammt dem wenn auch gebildeten Arbeitermilieu und spielte Klavier. Sein Vater holte auf der Abendschule versäumte Schulbildung nach und konnte sich so in der Mussolini-Ära zum Fabrikleiter hocharbeiten.
Die Po-Ebene mit ihrer vom Anbau von Zuckerrüben, Mais, Weizen und Wein geprägten Landschaft ist seine Seelenheimat. Wie vor hundert Jahren schwebt noch heute häufig ein dichter Nebel über den Feldern, weshalb die Schiffe auf dem Fluss mit Radar fahren müssen. Die Lastwagen lassen die Scheinwerfer an, wenn sie ausscheren und am Straßenrand stehen bleiben. Tagelang verzieht sich dieser Nebel nicht. „Im Winter, wenn er niedersank“, erinnert sich Antonioni in „Bowling am Tiber“, sei er „gern durch die Straßen“ von Ferrara spaziert. „Es war der einzige Augenblick, in dem ich mir einbilden konnte, woanders zu sein.“ Solche vom Nebel verhüllten Landschaften, in denen sich einsam Menschen bewegen, sind wohl die zentralen Bilder in Antonionis Filmen.
Zum Studium der Nationalökonomie ging der junge Antonioni nach Bologna und schrieb Filmkritiken für eine kleine Zeitung in Ferrara. Dort veröffentlichte er 1939 „Per un film sul fiume Po“, den Entwurf zu einem Dokumentarfilm über das Leben auf dem Fluss. Zum dokumentarischen Ansatz schreibt er in diesem Text, dass „jeder Blick auf unser Leben und unsere Umwelt durch das Mittel der dokumentarischen Darstellung ungeahnte Geheimnisse enthüllen kann. Deshalb ist es die Aufgabe eines Regisseurs, einen konstanten und engen Kontakt mit dieser Wirklichkeit aufrechtzuerhalten.“ Doch die Umsetzung des Projekts verzögerte sich. Erst die Mitarbeit bei der römischen Zeitschrift Cinema und ein kurzes Filmstudium am dortigen Centro Sperimentale di Cinematografia ermöglichten es ihm, 1943 „Gente del Po“ zu drehen.
Die Dreharbeiten veränderten sein Leben. Zum einen entdeckte er die Beobachtung mit der Kamera als Möglichkeit, mit der er den „Dingen einen neuen Zauber verleihen“ konnte. Zum anderen erkannte er in der Montage die Möglichkeit, eine Landschaft, die nur aus Dingen zusammengesetzt zu sein scheint, „still, einsam und menschenleer“, mit Menschen zu bevölkern und ihnen Bedeutung zu geben. Beides wurde zu den Grundlagen seiner Spielfilmdramaturgie, die er ab Ende der fünfziger Jahre entwickelte, in der er „eine Abfolge von Bildern“ suchte, um „zum Zustand der Dinge“ zu gelangen. „Alles, was ich später gemacht habe, so schlecht oder so gut es auch sein mag“, habe in „Gente del Po“ „seinen Ursprung“, schreibt er rückblickend. Die Kriegswirren verhinderten die Fertigstellung dieses Zehnminüters bis 1947. Einige kurze Dokumentarfilme folgten, 1950 schließlich konnte er seinen ersten Spielfilm „Cronaca di un amore“ auf die Beine stellen.
Für die konventionelle Weise der Filmherstellung hatte Antonioni schon damals wenig übrig. Er arbeitete mit langen Einstellungen, die den Schauspielern viel Raum ließen. Darüber hinaus stand für ihn der Ton an gleicher Stelle wie das Bild. Auf Filmmusik hätte er gerne verzichtet, weil er Musik im Film verabscheut. „Wenn ich könnte und mich die Produzenten machen ließen, würde ich nur eine Tonspur mit Geräuschen einbauen“, notierte er. Exemplarisch für diesen radikalen Ansatz ist in „Cronaca di un amore“ eine Szene, in der ein Liebespaar plant, den Ehemann der Frau zu ermorden und beide diskutieren, wann und wie dies vonstatten gehen soll. Anstatt dramatisch-gefühlvolle Musik einzusetzen, hört man auf der Tonspur unablässig Züge rangieren. Das metallische Scheppern dieser Vorgänge stellt eine Atmosphäre von großer unterschwelliger Grausamkeit her.
Ende der fünfziger Jahre löste sich Antonioni mehr und mehr vom literarischen Filmerzählen und vertraute beim Schreiben auf intuitive Ideen, weil „die Erfahrung mich lehrt, dass eine Intuition, wenn sie schön ist, auch richtig ist“, wie er schrieb. 1957, mit „Il grido“, realisierte er zum ersten Mal einen Spielfilm ganz losgelöst von narrativen Konventionen, indem er „die Wirklichkeit, die nackte Realität in ihrer intimsten Gestalt“ zeigte. Es blieb das einzige Mal, dass Antonioni als Protagonisten einen Arbeiter in einer Zuckerrohrfabrik wählte. Nach seiner Entlassung driftet dieser Mann ziellos durch die Po-Ebene, er durchwandert Landschaftsräume, die ihn zu verschlingen drohen.
Diese Figur des beziehungslosen Fabrikarbeiters wirkt zeitgeschichtlich besonders tragisch, hatte sich doch die Arbeiterbewegung in Norditalien schon mit Beginn von dessen Industrialisierung herausgebildet. Nach dem Ende des Weltkriegs herrschte unter Arbeitern ein starkes Gemeinschaftsgefühl, durch das die Po-Ebene zur kommunistischen Hochburg Italiens wurde. Auch Antonioni bezeichnete sich als einen „marxistischen Intellektuellen“ und hatte ein ausgeprägt distanziertes Verhältnis zum Geldbürgertum. Möglicherweise lag dies an der Anpassungskarriere seiner Eltern, die sich für ihr berufliches Vorwärtskommen mit dem Mussolini-Regime arrangiert hatten. Der Beerdigung seiner Mutter, die bereits 1943 starb, blieb er aus politischen Gründen fern.
Mit seinen Themen wie Entfremdung, Abgetrenntsein und Bindungslosigkeit spielte er auf die Abgründe im bürgerlichen Milieu an – und erntete vor allem Unverständnis. 1960, bei der Premierenvorführung von „L’avventura“ in Cannes, pfiff und lärmte das elegante Publikum unentwegt. Nur mit Mühe konnte die Vorstellung zu Ende gebracht werden. Die Zuschauer fühlten sich durch die Geschichte von einer Gruppe reicher Müßiggänger, die einen Jachtausflug unternehmen, verhöhnt. Mit Antonionis sensualistischem Filmkonzept konnten sie nichts anfangen. Noch in der gleichen Nacht unterzeichneten prominente Kritiker und Regisseure eine Ehrenerklärung für Antonioni. Anschließend verlieh die Jury dem Film ihren Spezialpreis für seinen, laut Urteilsbegründung, „bemerkenswerten Beitrag zur Erforschung einer neuen Filmsprache“. Derartige Unterstützung verhalf ihm immer wieder, Geldgeber für seine aufwändigen und gewagten Kultfilme wie „Blow Up“ (1966), „Zabrieski Point“ (1970) oder „Professione: Reporter“ (1975) zu finden.
Bleigrauer Himmel, Regen, Nebel, es sind Bilder voller schöner Trostlosigkeit, durch die Antonioni seine Figuren voller elementarer Einsamkeit straucheln lässt. Man kommt nicht weit, wenn man Charakterstudien der Hauptfiguren betreibt. Manchmal durchleben sie neurotische Krisen, manchmal Sinnkrisen, manchmal einfach Krisen im allgemeinen. Seine Filme mäandern um die schwer fassbare Psychologie ihrer Hauptdarsteller, die sich für Antonioni vor allem in den Orten, an denen sie sich aufhalten, widerspiegelt. Ihm ging es vor allem um Irrationalität, denn er glaube nicht, „dass die Vernunft allein imstande ist, die Wirklichkeit zu erklären“, wie er in „Bowling am Tiber“ schrieb, denn „der Rest ist Nebel. Daran bin ich gewöhnt.“