: Mitten im Weltenbau steht der Mensch
HEILIG Die Benediktinerin Hildegard von Bingen war ihrer Zeit stets voraus. Über achthundert Jahre später hat die Kirche das auch gemerkt – und die rebellische, ganzheitlich denkende Individualistin zur Kirchenlehrerin ernannt
VON WALTRAUD SCHWAB
Hoch über Rüdesheim am Rhein ist eine Benediktinerinnen-Abtei. Steinern, imposant, burgenähnlich. Die 54 Nonnen, die umgeben von Weinbergen dort leben, stehen in der Nachfolge von Hildegard von Bingen. Vor 850 Jahren gründete sie das Kloster.
Seit ihrem Tod im Jahr 1179 fordern die Benediktinerinnen, dass ihre charismatische Führerin heilig gesprochen und zur Kirchenlehrerin ernannt wird. Der erste Antrag, den die nachfolgende Äbtissin im Jahr 1227 an den Papst stellte, existiert im Original. Aber erst jetzt geht alles in Erfüllung. Frauen müssen – so die Message – nur Geduld haben, dann kriegen sie, was sie wollen. 785 Jahre, was sind das schon?
Nach der Heiligsprechung im Mai 2012 erhält Hildegard von Bingen am 7. Oktober nun den Status einer Kirchenlehrerin. Unter 35 Männern wird sie die vierte Frau sein, deren Wirken so hoch geschätzt wird, dass es Grundlagenwert erhält. Irrtumsfrei muss es dafür nicht sein.
„Wir können es nicht fassen“, sagt die eloquente Schwester Philippa Rath, raumgreifende Pressesprecherin der Sankt-Hildegard-Abtei. Eine PR-Frau brauchen die Rüdesheimer Nonnen dringend, denn das Kloster ist eine Institution, die sich selbst tragen muss. Neben Kontemplation, Gebet und den Hildegard-Studien sind der Beherbergungsbetrieb, der Klosterladen und das Weingut wichtige Wirtschaftspfeiler. 150.000 Touristen kommen im Jahr. Den Medien ist der weltliche Arm der Abtei auch recht. Wenn Nonnen im Herbst die Trauben ernten, sind sie da. „Weil’s pittoresk und telegen ist“, sagt Schwester Philippa.
Shopping in Klöstern ist en vogue. Und Hildegard von Bingen ist es auch. Vor allem die Frauenbewegung, die nach historischen Vorbildern suchte, hat die Mystikerin seit den siebziger Jahren wieder bekannt gemacht. Denn Hildegard von Bingen war eine selbstbewusste Frau. Sie mischte sich neben der Theologie auch in die Politik ein. Sie begehrte gegen den Abt im Kloster Disibodenberg, nicht weit von Bingen, zu der ihre Klause anfangs gehörte, auf und gründete ihr eigenes Kloster. Sie korrespondierte mit weltlichen Herrschern und las ihnen auch die Leviten. Emanzipiert also war Hildegard von Bingen im heutigen Sinn. Dass sie zudem Bücher über Pflanzenmedizin schrieb, interessiert Naturheilkundige. Komponiert hat sie auch.
Der Hildegard-Run ist Fluch und Segen für die Benediktinerinnen in Rüdesheim. Fluch, weil der Kirche mit der Popularisierung der Mystikerin die Deutungshoheit streitig gemacht wurde. „Es wurden nur Teile ihres Werkes rezipiert“, sagt Schwester Philippa, „Frauenpower, Gesundheit, Ernährung, später noch Musik. Dabei war Hildegard doch eine Universalgelehrte.“ Für sie waren Gott, Welt und Mensch eine Einheit. Sieht man nur einen Aspekt, sei das, als wisse man bei einer Kommode nur, was in einer Schublade sei. Ein Segen, klar, war es auch, weil die Popularität die Forderung der Nonnen stärkte, dass ihre Klostergründerin endlich von der Kirche gewürdigt werde.
Dass die Würdigung nun erst kommt, sieht Schwester Philippa pragmatisch. „Hildegard wollte den Menschen den Himmel öffnen“, das sei gegenwärtig auch wieder nötig. Ihre bildhaft-ungeschminkte Ansprache passe gut zum Heute. Im hohen Besucherzimmer, das oben unter der Decke nur eine Luke hat, durch die der Wind pfeift, zitiert die Pressefrau Hildegard von Bingen: „Mitten im Weltenbau steht der Mensch“ – das sei an sich schon ungewöhnlich – „er ist an Statur zwar klein, aber an Seelenkraft gewaltig. Was er an Werten vollbringt, bewegt das ganze All.“ Das sei doch hochaktuell. „Hildegard schreibt über Freiheit und Verantwortung. Sie hat eine anthropozentrische Wende in der Kirche eingefordert. Sie wurde angefeindet und hat standgehalten.“ Für Grüne, für Schöpfungsbewahrer sei das doch, als spreche jemand für sie.
Als Papst Benedikt XVI. im Jahr 2010 in zwei Ansprachen von der „heiligen Hildegard“, die doch noch gar keine Universalheilige war, redete, dachten die Nonnen: „Jetzt oder nie!“ Sie schrieben ihm, dass da ein Versäumnis der Kirche vorliege, und lockten ihn mit ihrer Erfahrung, „dass man mit Hildegards Hilfe die Leute für Glaubensfragen öffnen kann“, berichtet Schwester Philippa. Der Papst hat reagiert.
Das Kloster musste umfassend begründen, warum Hildegard von Bingen Kirchenlehrerin sein soll. Sie mussten das Neue an ihrer Theologie herausarbeiten und nachweisen, dass Leben und Lehre übereinstimmten. Die Pressesprecherin holt das knallrote, dicke Buch, das dabei entstand und das noch roter wirkt vor ihrer schwarzen Kleidung.
Draußen Touristen, Dinkelplätzchen, Hildegard-Wein. Drinnen ein religiöses Anreden gegen Weltzerstörung, Machtmissbrauch und Gier und ein beharrliches Einstehen für die Gründungsmutter. Dazwischen die Nonnen – im Weinberg, in der Töpferei, in der Kirche, in der Bibliothek, im Alltag. Aber Schwester Philippa, sagen Sie einmal, wie ist es, wenn eine Aufgabe, die 785 Jahre dauerte, geschafft ist? „Es ist Freude und Genugtuung.“