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In Nordhessen

… herrschen Treue und innerliche Schönheit

Von Ambros Waibel

Als junger Bayernflüchtling kam ich im Zug nach Norden einmal neben zwei Landsleuten zu sitzen. Zum Ausblick auf Himmel und Landschaft jenseits von Gießen fiel denen ein: „Wenn i da nausschaug – des erinnert mi immer an die DDR.“

Schon mein Firmpate hatte mir spöttisch-tröstend auf die Schulter geklopft, als ich ihn Ende der 1980er Jahre von meiner Absicht in Kenntnis setzte, mich zivildiensttechnisch in unser nördliches Nachbarbundesland verschlagen zu lassen, „Ja, ja“, sagte er, „die hessischen Inzuchtdörfer“, mir sozusagen ein Abenteuer bei den wilden Völkern jenseits des guten alten Limes zugestehend.

Dabei haben Hessen und Bayern jedenfalls eines gemeinsam: Beide sind geteilt, in einen reichen Süden, der für alle Klischees gut ist – vom Bier zum Äppelwoi über den bairischen bzw. babbelnden Dialekt – und mit einem ärmeren, das r rollenden Norden, der wiederum in beiden Bundesländern vor allem aus der Produktion von Wurst sein Selbstbewusstsein zu ziehen sucht.

Nordhessen liegt mitten in Deutschland, je nach Berechnungsmethode kann man den Mittelpunkt der Bundesrepublik in der Kassler Gegend finden. Sucht man Marburg, wo ich zehn Jahre lang gelebt habe, auf der Landkarte, so sieht man es umgeben von Fluren, die „Hinterland“ heißen und mit „Grenzwegen“ abschließen. Das nördliche Hessen ist eine melancholische, für deutsche Verhältnisse leere Gegend. Die Sonne zeigt sich selten, selbst an Hochdrucktagen im August hängen immer irgendwo Nebelfetzen am Himmel.

Die innerlichen schönsten Menschen in meinem Leben habe ich in diesem wie mit sehr wässrigen Wasserfarben gemalten Landstrich kennengelernt. Was aber wäre das, ein innerlich schöner Mensch? Welche Tugenden hätte er?

Nun, das ist etwas heikel – im nordhessischen Fall sind es nämlich die einst so genannten deutschen Tugenden. Die Menschen, denen ich dort droben nahe kam, waren ohne Falsch, fast schon kindlich treudeutsch naiv und ehrlich, privat wie im Geschäftlichen.

Sie sprachen wenig, aber sie standen zu ihrem Wort, sie waren unerbittlich treu. Ironie und Sarkasmus blieben ihnen fremd. Zwei- bis dreimal im Jahr ließen sie sich gehen, schütteten sich mit ihren bitteren Licher Bieren voll, wurden dann erst lustig-wild und zum Ende hin schwer sentimental. Am nächsten Morgen hieß das alles dann: „Spaß gehabt!“

Das nördliche Hessen ist eine melancholische, für deutsche Verhältnisse leere Gegend. Die Sonne zeigt sich selten

Untereinander verständigten sie sich in einem mittelhochdeutsch klingenden „Platt“, das mit dem Babbeln ihrer reichen Cousins im Süden nichts zu tun hat. Im historischen ARD-Dreiteiler „Der Winter, der ein Sommer war“ von 1976 wird diese nach Hu-häi-ho klingende „Sproch“ – eben die der nach Amerika verkauften hessischen Söldner, die für die Engländer kämpfen mussten – schlicht unterschlagen: Dort müssen sie Frankfurter Dialekt reden.

Nie jedenfalls wie in den ersten Monaten in Nordhessen habe ich mich an einem Ort auf so angenehme Art so fremd gefühlt. Und deswegen fahre ich vielleicht immer noch so gern hin, nach Kassel inzwischen, wo man in der wunderschönen Markthalle Köstlichkeiten wie Ahle und Arschdarm-Wurst kaufen kann – vom Honig und vom Gemüse und überhaupt von der guten Art der Leute dort gar nicht erst zu reden.

Kassel und natürlich meine Freunde dort liebe ich also wirklich sehr. Leben möchte ich allerdings woanders: Als wir in diesem Sommer bei Hitze und – fast – blauem Himmel zum Public Viewing in einen Biergarten in der Nordstadt aufbrechen wollten, sah mein Freund noch mal kurz nach dem ­Wetter: Niederschlagswahrscheinlichkeit 17 %. In Berlin hatte es seit Monaten nicht mehr geregnet. Mein Freund hängte sich wortlos den Anorak über die Schulter und reichte mir einen Regenschirm. Ein Stunde später standen wir im Landregen.

Auf Nordhessen kann man sich eben verlassen.

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