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Archiv-Artikel

Er liebte das Brausen der Hörner

Im Jahr 2005 sollten nicht nur Albert Einstein, Friedrich Schiller oder Thomas Mann geehrt werden, unser Gedenken verdient hat auch der große Johann Martin Habc

Sein Leben war gleichsam wie eine Brezel: verschlungen und doch wohlgeformt

Für die einen ist er genialer Provokateur, für die anderen ein nervtötender Volldepp: Johann Martin Habc. Auch 100 Jahre nach seinem Geburtstag am 27. August 1905 scheiden sich an diesem großen Unbekannten der Moderne die Geister. In seinem Leben, das er einmal „gleichsam wie eine Brezel, verschlungen und doch wohlgeformt“ bezeichnete, durchmaß und durchlitt Habc alle Höhen und Tiefen.

Geboren wurde dieses Ausnahmetalent in München als sechstes Kind eines Fahrstuhlführers und einer Nachtschwester. Schon früh erkennt man seine außerordentliche musikalische Begabung. Mit drei Jahren erdrosselt das Kind in aller Frühe den Gockelhahn des Nachbarn und gibt, zur Rede gestellt, die lakonische Antwort: „Verstimmt.“

Bald unterweist ihn ein blinder Nachbar im Mundharmonikaspiel, und in der Mitternachtsmesse Weihnachten 1910 begleitet Habc allein den Chor der Rimpachtal-Grundschule Giesing bei „Stille Nacht“. Der Organist sieht sich veranlasst, von der Empore zu springen, weil ihm seine Existenz angesichts dieser wahren Begabung als verwirkt erscheint. In jener Grundschule begegnet Habc mit Henriette Matern seiner ersten Lehrerin und Muse. Ihr zu Ehren verfasst er im Alter von neun Jahren seine erste noch stark aus der familiären Erlebniswelt geprägte Oper „Der Fahrstuhlführer und die Nachtschwester“. Sie gilt als verschollen. 1917 wird der kleine Johann Martin als jüngster Schüler aller Zeiten auf dem Konservatorium im Fach Komposition zugelassen. Er ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre jünger als Boris Becker bei seinem ersten Wimbledon-Gewinn. Im Konservatorium begegnet Habc Urs Rübli aus Graubünden, der in München ein Gastsemester verbringt.

Habc besucht Rübli Weihnachten 1917 in der Schweiz. Dort erlebt er zum ersten Mal die majestätische Gewalt des Alphorns. Fortan wird ihn dieses Instrument nicht mehr loslassen. Zurück in München notiert er in seinem Arbeitsjournal: „Es soll doch möglich sein, diesem König der Instrumente seinen würdigen Platz in der Musikliteratur zu verschaffen. Es soll, es muss gelingen.“ Wie ein Fieber packt ihn jetzt die Komponierwut. Im Jahr 1918 entstehen „Sechs kleine Capricchios für drei Alphörner“ und „Drei große Capprichios für sechs Alphörner“ sowie zahlreiche kleinere, völlig vergessene Werke. Unverständnis bewirkt auch das Melodram für eine Sopranstimme und ein Alphorn „Der Fahrstuhlführer und die Nachtschwester“ (1921). Habc greift damit eine alte Idee aus früheren Jahren wieder auf. „Diesmal ist es mir besser gelungen, alles ist sehr filigran“, ritzt er dazu in einen Tisch im Hofbräuhaus, wo er als Weißwursthilfskoch arbeiten muss.

Nach seinem Studium will es Habc trotz der Misserfolge wissen und geht zu Arnold Schönberg nach Wien. Dort fliegt er achtkantig wieder raus. Schönberg notiert „ Habc ist ein nervtötender Volldepp“, und läuft fortan rot im Gesicht an, wenn das Gespräch auf Alphörner kommt. Habc ist das egal, und er beginnt seine erste große Oper, „Wilhelm Tell“.

Drei Jahre später, Habc hat mittlerweile Urs Rüblis Schwester Katharina geheiratet und ist Vater eines Sohnes Knut, geworden, ist es so weit. Am 17. November 1925 erlebt das Theresientheater in München die Premiere. Bis zuletzt liegt Habc mit der Bauaufsicht im Streit, die entschieden davon abrät, beim Schlusschor mit 40 Alphörnern anzutreten. „Es muss brausen, brausen, brausen“, insistiert Habc und kriegt seinen Willen. Doch kaum ist der letzte Ton verklungen, mischen sich in das Jubelgeheul des enthusiasmierten Publikums spitze Schreie des Entsetzens. Putz fällt von der Decke, Risse tauchen in den Wänden auf. Die Statik des Prachtbaus aus dem Jahr 1724 kann der Wucht dieses Werks nicht standhalten. Eine Panik bricht aus, das einstürzende Theater begräbt 30 Besucher und sieben Alphornisten unter seinen Trümmern. An seiner Stelle finden wir heute die Theresienwiese.

Habc ist erledigt. Wund an Leib und Seele zieht er in die norddeutsche Tiefebene und arbeitet dort als Fliesenleger. Bald merkt er, dass in ihm all die Jahre ein weiteres Talent schlummerte: Er legt Fliesen wie ein junger Gott. 1928 erscheint die erste Auflage seines Lehrbuchs „Die Kunst der Fuge“.

Von seinem Topseller über Nacht reich geworden, will Habc es noch einmal wissen und schreibt seine zweite und letzte Oper, „Hänsel und Gretel und Knut“. Habc orientiert sich am Urtext und ignoriert die auf den schnellen Erfolg getrimmte Fassung der Brüder Grimm. Es gibt drei Kinder, die in den Wald ziehen, und das Duo von Hänsel und Gretel, „Hexe, das kleine Scheusal ist für dich“, gehört, um es mit den Worten Theodor W. Adornos zu sagen, „zu den wahrhaft und wahnhaft inkommensurablen Momenten des Musiktheaters“.

Nicht nur wegen dieser Passage fällt die Oper glatt durch. Habc aber hat seinen Frieden mit der Musik gemacht und eröffnet in Vaterstetten einen Fliesenmarkt. 1931 mit nur 26 Jahren wird er dort am 16. März von einem Dachziegel erschlagen. Bis heute wartet das Oeuvre dieses musikalischen Pioniers auf seine Entdeckung. Die Baustatik hat sich weiterentwickelt, Johann Martin Habc hat seine zweite Chance verdient. ROB ALEF