: In Zukunft zurück zu Keynes
Politiker und Experten basteln an Reformen von Arbeitsmarkt und Steuerpolitik – und übersehen die Möglichkeiten einer modernen, nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik
Es hat nicht erst den Wahlkampf und die Steuerpläne von Paul Kirchhof gebraucht, um eines zu verdeutlichen: Der liberale ökonomische Mainstream und die beiden Volksparteien doktern auf der Suche nach Wachstum hilflos am Arbeitsmarkt und am Steuer- und Abgabensystem herum. Doch am Rande tut sich was. Plötzlich raten ehemalige Verzichtsprediger den Arbeitnehmern und Gewerkschaften zu Lohnsteigerungen. Der wirtschaftswissenschaftliche Klerus ist bereits auf der Palme. Er warnt vor einer Renaissance keynesianischer Konjunkturpolitik. Diese Kritik ist, über die politischen Lager hinweg, populär. Die Linken zweifeln an der Nachhaltigkeit und den positiven Arbeitsmarkteffekten des Wachstums. Für die liberale Orthodoxie ist eine Nachfragepolitik in Zeiten der Globalisierung und riesiger Schuldenberge Teufelszeug.
Wachstumspessimisten verweisen auf die systemischen Grenzen des Wirtschaftswachstums. Sie kritisieren, dass der gegenwärtige Wachstumstyp mit einem steigenden Ressourcenverbrauch einhergeht. Keynesianer stehen immer noch in Verruf, die Betonmischmaschine anzuwerfen. Darüber hinaus wachsen die Sättigungstendenzen im entwickelten Kapitalismus. Der Bedarf an Kühlschränken, Waschmaschinen und Autos ist begrenzt. Ohne Produktinnovationen verliert das Wachstum an Dynamik. Produktivitätssteigerungen entkoppeln dann angeblich Wachstum und Beschäftigung. Eine Beschäftigungspolitik, die primär auf Wachstum setzt, läuft ins Leere.
Diese Entkopplungsthese ist durch die Praxis widerlegt. Zwar ist das Wachstum in den Industriestaaten rückläufig, Wachstum und Beschäftigung sind jedoch noch immer stark korreliert. Überspringt das Wachstum die Beschäftigungsschwelle – aktuell etwa 2 Prozent –, dann gibt es neue Jobs. In den USA vergrößerte sich der Kuchen der produzierten Güter und Dienstleistungen seit 1994 um ein Drittel oder jährlich 3,3 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der Erwerbstätigen um 10 Prozent oder 14 Millionen. In Großbritannien wurden im gleichen Zeitraum bei jährlichen Wachstumsraten von 2,8 Prozent bis zu 2,5 Millionen neue Jobs geschaffen. Selbst im wachstumsschwachen Deutschland brachte der letzte Aufschwung zwischen 1998 und 2000 immerhin 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze. Von einem „jobless growth“ keine Spur.
Die Kritik an den ökologischen Grenzen des Wachstums bleibt jedoch aktuell. Deswegen setzt eine moderne keynesianische Wirtschaftspolitik auch auf die Strategie nachhaltigen Wachstums. Diese umfasst eine Innovationspolitik ebenso wie öffentliche Investitionen in ökologische Modernisierung und Sanierung (ÖPNV, Bahn, Wasserver- und -entsorgung, energetische Gebäudesanierung). Der kommunale Investitionsbedarf in die letztgenannten Bereiche beläuft sich nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Urbanistik auf jährlich 35 Milliarden Euro. Dieser ökologische Umbau ist beschäftigungsintensiv. Er verknüpft Ökologie und Arbeit. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit sind ermutigend: Durch den Entschwefelungs- und Entstickungsanlagenbau wurden seit Mitte der 80er-Jahre 45.000 neue Jobs geschaffen. Durch den Ausbau der erneuerbaren Energien und energetische Gebäudesanierungen sind in den letzten sieben Jahren insgesamt 120.000 neue Arbeitsplätze entstanden.
An der Globalisierung wird eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik nicht scheitern. Zweifelsohne sind die Volkswirtschaften offener geworden. Für große Nationalökonomien ist aber immer noch der Binnenmarkt entscheidend. Vier Fünftel aller Arbeitsplätze sind in Deutschland vom heimischen Markt abhängig. Eine erhöhte inländische Nachfrage versickert nicht im Ausland. In Europa lässt sich die Effizienz konjunkturpolitischer Maßnahmen durch eine engere wirtschaftliche Kooperation der Kernländer noch verbessern. Wie sollten nun die einzelnen Politikfelder einer modernen keynesianischen Wirtschaftspolitik konkret ausgestaltet werden?
Die europäische Geldpolitik ist nicht nur für die Höhe der Preise, sondern auch für Wachstum und Beschäftigung verantwortlich. In Abschwungs- und Schwächephasen, wie gegenwärtig der Fall, sollten die Zinsen schnell und deutlich gesenkt werden. Negative Realzinsen – wenn also die Zinsen unter der Inflationsrate liegen – helfen den Kernländern der Währungsunion, wieder auf einen Wachstumspfad zu gelangen.
Die Löhne sollten sich zunächst verteilungsneutral entwickeln. So werden schädliche Inflations- und Deflationsspiralen vermieden. Zudem entsteht keine einkommens- und konsumbedingte Nachfrageschwäche. Die aktuelle lohnpolitische Herausforderung besteht darin, die seit Mitte der 90er-Jahre anhaltende Lohnzurückhaltung zu überwinden. In Europa sind die nationalen Lohnpolitiken stärker zu koordinieren.
Die Finanzpolitik ist nach Einführung des Euros und wegen der Schwäche der Lohnpolitik das einzige handlungsfähige nationale Politikinstrument. Daran ändert auch die Höhe des Schuldenturms nichts. Ohne Wachstum keine Haushaltskonsolidierung. Eine Finanzpolitik, die auf die Konjunkturbremse tritt, erntet nur höhere Schulden. Hans Eichel kann ein Lied davon singen. Und mit Generationengerechtigkeit hat eine rigide Sparpolitik überhaupt nichts zu tun. Öffentlichen Schulden stehen immer private Vermögen gegenüber. Letztere nicht hinreichend zur Finanzierung des Allgemeinwesens heranzuziehen und notwendige öffentliche Investitionen unter Hinweis auf die leeren Kassen zu unterlassen ist der gröbste Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit.
Eine moderne Finanzpolitik muss Wachstum und Konsolidierung verbinden. Sie muss für Wachstum sorgen und im Aufschwung die Schulden abtragen. Der Schuldenabbau kann durch eine Begrenzung der kontrollierbaren Staatsausgaben verbindlich festgeschrieben werden. Zur Förderung des Wachstums sollte die Finanzpolitik den Konjunkturverlauf stabilisieren – Mindereinnahmen und Mehrausgaben werden im Abschwung hingenommen – und die öffentlichen Investitionen in Bildung, Infrastruktur, ökologische Modernisierung, Forschung und Entwicklung steigern. Finanziert werden die öffentlichen Investitionen entweder über höhere Steuern oder über eine höhere Neuverschuldung.
Ein solche neokeynesianische Makropolitik wird in den USA und Großbritannien bereits seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich praktiziert. Sich den angelsächsischen Raum zum Vorbild zu machen bedeutet jedoch nicht, dass Fragen der Qualität von Beschäftigungsverhältnissen oder Staatsausgaben, der Sozialpolitik sowie der Einkommensverteilung plötzlich keine Rolle mehr spielen. Mit Geld-, Finanz- und Lohnpolitik kann lediglich der Wachstumsmotor wieder zum Laufen gebracht werden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Immerhin Grund genug, Keynes auf die wirtschaftspolitische Agenda zu setzen. DIERK HIRSCHEL