: In Japan fressen Löwen jetzt Betonköpfe
Japans vorgezogene Neuwahlen am 11. September sorgen für eine Spaltung der seit dem Zweiten Weltkrieg fast ununterbrochen regierenden LDP. LDP-Premierminister Koizumi will das sogar und drängt Reformgegner aus der Partei
TOKIO taz ■ Japan stehe vor der bedeutendsten Wahl der Nachkriegszeit, prophezeit Katsuya Okada, Chef der Demokratischen Partei Japans (DPJ). Noch nie war eine Oppositionspartei in Japan näher daran, das Machtmonopol der Liberaldemokraten (LDP) von Premierminister Junichiro Koizumi aufzubrechen, als bei der vorgezogenen Neuwahl am 11. September. Die LDP regiert seit 55 Jahren, mit einer Unterbrechung von neun Monaten.
Den Steilpass für die Opposition schoss der Regierungschef persönlich. Nachdem ihm das Oberhaus am 8. August die Zustimmung für die Privatisierung der Post verweigerte, rief er Neuwahlen aus und erklärte die Wahl zum Volksreferendum über sein wichtigstes Reformprojekt. Seither ist bei der LDP der Teufel los: Die Parlamentarier, die gegen die Privatisierung der Post stimmten, werden aus der Partei gedrängt.
Altgediente LDP-Politiker müssen nun als Unabhängige ins Rennen steigen. Shizuka Kamei, einer der prominentesten Koizumi-Gegner, steht hinter der neu gegründeten „Neuen Volkspartei“. Am letzten Sonntag gründeten vier weitere LDP-Politiker die „Japan-Partei“.
Im Hinblick auf die Wahlen hat Koizumi schlagkräftige Gegenkandidaten in die Wahlkreise der Widerständigen geschickt. So hat Umweltministerin Yuriko Koike den Auftrag, in Tokio die Wiederwahl eines prominenten LDP-Rebellen zu verhindern. Und in Hiroschima tritt der 32-jährige Gründer des Internetportals Livedoors, Takafumi Horie, gegen einen der Rädelsführer der Privatisierungsgegner an. Horie, der weder Anzug noch Krawatte trägt, gilt als einer der untypischsten Unternehmer Japans. Im Frühjahr schreckte er Japans Establishment mit einem feindlichen Übernahmeangebot für den TV-Sender Fuji auf – eine in Japan bislang nahezu unbekannte Praxis.
Koizumis Gegner sprechen entsetzt von „Attentatsstrategie“. Einer der Bedrängten fühlte sich an das Römische Reich erinnert: „Der Kaiser amüsierte sich, wie Gefangene von Löwen oder anderen Bestien vor Publikum zerfleischt wurden.“ Der Premier hingegen beansprucht für sich die Rolle Galileo Galileis: Auch der Renaissance-Wissenschaftler – der gegen den Konsens seiner Zeit die Erkenntnis vertrat, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt – sei des Irrtums bezichtigt worden, obwohl er im Recht war.
Koizumi sieht in der Privatisierung der Post mehr als eine wirtschaftspolitische Maßnahme. Sie steht für einen Kulturkampf zwischen „Old“ und „New Japan“. Die Verfechter des Status quo stützten die Günstlingswirtschaft zwischen Postmeistern und Lokalpolitikern, klagen die Reformer. Aus dem Reservoir der gigantischen Post-Spareinlagen wurden traditionell zweifelhafte Bauvorhaben finanziert, die zur Wiederwahl der LDP-Politiker beitrugen. Der unkonventionelle Koizumi trat vor vier Jahren mit dem Versprechen an, das zu ändern. Wenn sich die reformfeindlichen Kräfte der Partei dagegen sperrten, werde er die LDP zerschlagen. Und das ist nun in vollem Gange.
Die wichtigste Oppositionspartei DPJ beobachtet all das mit Wohlgefallen. Dennoch fällt es DPJ-Chef Katsuya Okada schwer, sich als künftiger Premierminister zu verkaufen. Der steife Ex-Bürokrat mit Harvard-Ausbildung kommt in der Öffentlichkeit weniger gut an als der medienagile Koizumi. Okada präsentiert sich andererseits als radikaler Reformer, der noch weiter geht als Koizumi. Er will das Budget für öffentliche Bauten drastisch beschneiden und verspricht dafür mehr Geld für Polizei, Schulen, Altersheime und das Ende der Autobahngebühren. Auch die japanischen Truppen im Irak will er abziehen. Als Premierminister würde Okada den umstrittenen Yasukuni-Schrein nicht mehr besuchen; der Verbesserung der Beziehungen zu China und Südkorea müsse Priorität eingeräumt werden. Die DPJ ist nicht grundsätzlich gegen die Privatisierung der Post, hat aber andere Ideen bezüglich der Umsetzung.
Im japanischen Unterhaus entfielen bislang 249 der 480 Sitze auf die Liberaldemokraten, auf die Koalitionspartei Neue Komeito zusätzlich 34. Die Parteistrategen der LDP vertrauen darauf, dass am 11. September mindestens 241 Parlamentarier aus dem Regierungslager übrig bleiben. Gemäß einer Umfrage vom Montag liegt die LDP in der Wählergunst deutlich vorn: 32 Prozent der Befragten würden für die Regierungspartei stimmen, 15 Prozent für die DPJ. Allerdings: 41 Prozent sind unentschlossen. MARCO KAUFMANN