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IBSENDOPPEL Was taugt die Demokratie, was bringt der Aufstand? Diese Fragen dekliniert Jorinde Dröse an Hendrik Ibsens „Ein Volksfeind“ im Gorki Theater durch. Mit kleinen Seitenhieben gegen die Schaubühne

Jorinde Dröse versucht, die großen Worte auf ihre konkrete Bedeutung abzuklopfen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Volksfeind gegen Volksfeind: Wer hätte gedacht, dass dies so spannend wird?

Vor einer Woche feierte die Schaubühne ihr 50-jähriges Bestehen, Ende Oktober begeht das Maxim Gorki Theater seinen 60. Geburtstag. Beide Häuser entschieden sich, „Ein Volksfeind“ von Ibsen zum Auftakt der Spielzeit zu inszenieren – und es scheint, als würde das Theater insgesamt gewinnen durch diese ästhetische Herausforderung. Denn die Inszenierungen von Thomas Ostermeier (Schaubühne, siehe taz 10. 9.) und Jorinde Dröse (Maxim Gorki Theater) sind nicht nur überraschend unterhaltsam für ein Stück über Kommunalpolitik, sondern aufschlussreich auch dort, wo sie voneinander abweichen.

Was wird aus der Demokratie, wenn die Mehrheit dumm ist? Diese Frage quälte Henrik Ibsen. Die Dummheit im „Volksfeind“ beruht auf den ökonomischen Interessen einer kleinen Gemeinde, die mit ihrem Kurbad gerade zu etwas Wohlstand zu kommen hofft, als der Badearzt Dr. Stockmann die Verseuchung des Wasser entdeckt. Wie seine Wahrheit in eine Sache der Interpretation umgedeutet wird, wie das Gemeinwohl als rhetorische Waffe gegen ihn eingesetzt wird, das wird an beiden Bühnen virtuos verhandelt.

Jorinde Dröse gelingt es dabei besser, Stereotypen zu umgehen. Bei ihr ist es Katharina Stockmann (Sabine Waibel) – sonst die Frau des Badearztes, diesmal selbst die Badeärztin, die das Wasser hat untersuchen lassen und nun seit Tagen unruhig auf die Ergebnisse wartet. Ihr Bruder ist der Bürgermeister (Ronald Kukulies), der eine Schließung des Bades – keine Gäste, keine Arbeitsplätze, keine neue Kita, Millionen neue Schulden – auf jeden Fall verhindern will. Auch mit Mitteln der Erpressung. Ihr Kampf ist auch ein Geschwisterkrach, für einen Moment sogar pubertäres Geraufe – und doch nimmt man beiden ab, aus Sorge für das Dorf so zu handeln. Die Eitelkeiten und narzisstischen Kränkungen, der Kampf um Machterhalt und Ansehen prägen beider Rollen diesmal weniger als die Überzeugung, im moralischen Sinn das Richtige zu tun.

Ein Sofa in Übergröße wird dabei zum spielerischen Instrument, die Positionen zu markieren. Katharina, ihr Mann, ihre Tochter, die befreundeten Journalisten, sie alle springen leichtfüßig über die Lehnen, turnen darauf herum, genießen die Wohnspielwiese. Nur dem Bürgermeister scheint das Teil feindlich gesonnen, er kann über die Rückseite weder klettern noch springe,n und als ihn die anderen endlich hochgehievt haben, rutscht er prompt über die vordere Kante und auch gleich noch von der Bühne.

Slapstick hält den Geist wach

Der Slapstick, der die Wortgefechte begleitet, ist ein artistisches und riskantes Spiel, das den Schauspielern das Wasser auf die Stirn treibt. Er funktioniert, noch von Musik unterstützt, diesmal hervorragend als ein Motor, der die Energie immer oben hält und den Geist wach.

Im Regiestil von Jorinde Dröse erhält vieles Sichtbarkeit, ohne deshalb banal zu wirken. Als das Komplott gegen Katharina geschmiedet wird und auch ihre Freunde sie zu belügen beginnen, geraten deren Körper und Stimmen außer Kontrolle, sie zucken, stottern, würgen, schwitzen, ziehen sich aus, performen die Verstellung übertrieben – aber eben auch mitleiderregend, große, ratlose Kinder, die man jetzt nicht einfach verurteilen will.

Dass dies nicht in Infantilismus kippt, sondern der Beweglichkeit des Denkens zugutekommt, ist der Clou der Inszenierung. Sie hält die großen Spannungsbögen und legt am Ende sogar noch mal an Tempo zu. Geschickt sind die Wechsel in der Erzählperspektive. Katharinas Radikalisierung, als sich ihr Beharren auf der Vernunft in Hass auf alle verkehrt, die ihre Einsicht nicht teilen, erleben die Zuschauer hautnah in der Pause. Mit dem Mikrofon, das ihr die anderen Schauspieler ständig wegnehmen wollen, rennt Sabine Waibel im Foyer zwischen den Zuschauern umher, klettert auf Bänke und Tresen, kämpft als Katharina um das Wort, kämpft aber auch als Sabine Waibel um jeden Gedanken, um mit ihm uns, das Publikum, zu packen.

Im letzten Akt aber ist die Schauspielerin verstummt, ruhelos kreist sie über die Bühne; andere, ihr Mann, ihr Bruder, ihr Schwagervater, nehmen nun ihre Sätze und erzählen, was sie sagt und wie sie immer noch nicht einsehen will, dass man so seine Existenz und die seiner Familie nicht aufs Spiel setzen kann. Es ist die Entmündigung einer Frau, die nicht nur ausscheren wollte aus der bestehenden Ordnung, sondern diese auch als auf Lügen bauend zerstören. Den „Aufstand proben“ hat das Gorki Theater als Motto über seine Spielzeit geschrieben.

Ist der inflationäre Gebrauch der Rede vom Aufstand mehr als ein Zeichen der Sehnsucht danach, dass sich etwas verändert, fragt der Chefdramaturg Jens Groß in der Hauszeitung. Geht es um eine Revolution – oder mehr darum, in Bewegung zu bleiben, um sich lebendig zu fühlen?

Jorinde Dröses „Volksfeind“ ist einer, der versucht, die großen Worte auf ihre konkrete Bedeutung abzuklopfen. Das Manifest „Der unsichtbare Aufstand“, das in der Volksfeind-Inszenierung von Thomas Ostermeier als schärfstes Schmiermittel des radikalen Denkens herangezogen wird, taucht hier in einer Fußnote auf und wird ob seiner lebensfernen Romantizismen verspottet. Es sind nicht zuletzt solche Seitenhiebe, auch gegen das Radikalenbild des bürgerlichen Feuilletons, die an Dröses Inszenierung Spaß machen.

■ Wieder am 3. + 19. 10. und am 3., 11. + 28. 11. im Gorki Theater