: Als der Tod die Bühne betrat
Sie begreifen Berlin gerne als Ort, Neues zu probieren, die Stars des klassischen und des zeitgenössischen Balletts: Das Festival „Tanz im August“ trug etwas schwer an der Lust am Experiment. Aber großartig war es auch, gerade in den neuen Dingen
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Jedes Festival bringt mehrere Erzählungen hervor. Es gibt die, mit denen schon vor dem Festival geworben wird und die am Ende gar nicht mehr so großartig aussehen; und andere, die erst am Ende am erzählbar werden und gerade durch das Unvorhersehbare berühren. Es gibt eine, die wirkt wie ein Déjà vue und eine, die sich längs der persönlichen Vorlieben entspinnt. Für sie alle fand sich auf dem Festival „Tanz im August“, zum siebzehnten Mal in Berlin, viel Stoff, wenn auch oft andern Orts, als zu erwarten war.
Kulturpolitisch wollte das Festival ein Signal setzen: Dass der Tanz 2005 anders als noch vor wenigen Jahren mit einem neuen Selbstbewusstsein auftrete. Möglich wurde dies durch eine dreijährige Förderung des Festivals durch den Hauptstadtkulturfonds, die auch noch 2006 greift. Ein Indiz dafür war die Größe des Programms mit 24 Stücken, vielen wichtigen Choreografen und fünf Uraufführungen. Inhaltlich stand für das Anbrechen einer neuen Morgenröte des Tanzes die Zusammenkunft der Stars des klassischen und des zeitgenössischen Balletts, Vladimir Malakhov und William Forsythe in der Staatsoper.
Meckern, dann schwärmen
Gut, dass man diese Geste eines neu erwarteten Interesses aneinander schon mal vorweg feierte, denn hinterher gab es nichts mehr zu feiern. Der mit Spannung erwartete Auftritt von Malakhov fiel krankheitsbedingt aus, das kann passieren; aber dass er dies am Abend selbst erst nach zwanzig Minuten Wartezeit ansagte, war einfach ärgerlich. So blieb er nur Gastgeber einiger Produktionen von Forsythe, Jérôme Bel und Xavier Le Roy, die das Ballett und seinen performativen Rahmen zwar mit feinen Instrumenten abtasteten, auf der großen Bühne der Staatsoper aber nicht den richtigen Rahmen für ihre Spannung fanden. So wurde aus der Annäherung nicht mehr als eine Behauptung.
Ebenso erging es anderen Superlativen, die das Programm erst erwarten ließ, denn viele der eingeladenen Künstler kamen mit kleineren Produktionen (Batsheeva Dance Company, de Keersmaeker) oder selbstreferenziellen Formaten (Meg Stuart, Michael Laub). Nun war es immer eine Stärke der Kuratoren Ulrike Becker, André Thériault und Bettina Masuch, ihren Künstlern Produktionen zu ermöglichen, mit denen sie neues Terrain erkunden wollten. Man kommt eben gern nach Berlin, um sich hier auszuprobieren. Nur gab es diesmal zu viel davon und zu verstreut über Tage und Zeiten.
Ergriffen werden
Dennoch war in den kleinen Formaten wiederum Großartiges zu entdecken: Eine der schönsten Erzählungen darüber, was Tanz bedeuten kann, kam ganz ohne einen einzigen Tanzschritt aus. Die Videoperformance „Histoire(s)“ der Choreografin Olga de Soto aus Brüssel setzte eigentlich einer Generation ein Denkmal. Eingeladen, eine Hommage für Jean Cocteau und sein Ballett „Le jeune homme et le mort“ von 1946 zu entwickeln, entdeckte sie sein damaliges Publikum als Helden.
Indem sie heute achtzig- und neunzigjährige Frauen und Männer nach ihrer Erinnerung an das Stück befragte, entstanden sensible Porträts dieser alten Leute von großer Schönheit. Denn dadurch, wie sie das Ballett erinnern, die Virtuosität und Verzweiflung des jungen Mannes und den Moment, wenn der Tod in Gestalt eines jungen Mädchens die Bühne betritt, werden ihre unterschiedlichen Temperamente sichtbar, ihr Witz, ihre Träume und Ängste. Es geht nicht nur um das unzuverlässige Gedächtnis und die Flüchtigkeit des Tanzes, sondern mehr noch darum, wie sich die eigene Lust am Leben in der Leidenschaft für die Kunst wiederfindet.
Die Zeit 1946, Paris nach dem Krieg, bildet den Hintergrund dafür, dass jeder von ihnen den Tod auf der Bühne aufgrund vorausgegangener Erfahrungen anders erlebt hat. So wird in unglaublicher Klarheit fassbar, wie der Kunst durch den historischen Horizont Bedeutung zuwächst. Es gibt bisher kein vergleichbares Werk, das dies so präzise auch über den Tanz erzählt hätte.
Tief in das Innerste des Körpers und in die Ängste vor seinem Verfall griff das Stück „You made me a monster“ der Forsythe Company ein. Es ist skulpturale Installation und Aufführung zugleich, jeweils für ein kleines Publikum und drei Tänzer. Hier berühren sich viele Ebenen: Tänzer und Publikum bewegen sich gleichermaßen auf der Bühne, die mit Tischen voll steht, auf denen Ungetüme aus Pappe zum Basteln einladen.
Anfangs ist man damit beschäftigt, vorgestanzte Elemente aus Papier zu falten, die sich zu merkwürdigen Skeletten und verdrehten Anatomien zusammensetzen lassen. Zerrissene Schatten entstehen durch das Licht, das durch die Skulpturen fällt. Deren Umrisse zeichnen die Tänzer auf Papier nach und nehmen sie wiederum als Partitur für ihre Bewegungen, so dass man selbst mit ausgelöst hat, was sie tun.
Derweil läuft über eine Leinwand langsam ein Text, der vom Sterben einer Frau und Tänzerin erzählt. Forsythe gibt zu dieser Produktion keine Interviews, und das ist gut. Man weiß auch so, dass die bestürzende Geschichte der seiner früheren Frau gleicht. Die Tänzer nehmen in ihren kleinen, abrupten Bewegungen, dem Entkoppeln ihrer Glieder und in den klagenden Stimmen, die noch elektronisch bearbeitet werden, die Anmutung des Urzeitlichen und Fremden der Papierskulpturen auf.
Obwohl sie sich mitten unter uns bewegen, wirken sie doch wie in einer anderen Zeit zu Hause und scheinen nur unter Qualen in unserer Gegenwart gelandet. Ihr Klagen und ihr Schmerz ist fremd und doch verstehbar: Er wandelt das Bild von Verletzbarkeit und Verlusten, die einen Körper nach und nach aufzehren, in das eines fremden Wesen, das sich nach und nach in ihm einnistet, bis der Körper und seine Krankheit, das Eigene und das Fremde nicht mehr zu unterscheiden sind.
Spiel mit dem Publikum
Das ist ein erschreckendes und sehr trauriges Bild, und dennoch macht der Choreograf dem Publikum den Umgang damit leicht: Indem er ganz konkret und räumlich den Abstand herausnimmt, der die Zuschauer sonst von der Tragödie trennt. Nach einem solch neuen Zugang zu suchen, die Karten zwischen Künstler und Publikum neu zu mischen, war zweifelsohne auch das Anliegen eines Improvisationsprojekts von Meg Stuart. Eingerichtet war die Begegnung wie eine große Konferenz, Besucher und Künstler sitzen um einen gigantischen Tisch. Papiere wurden herumgereicht, Anwesenheitslisten erstellt und vorgelesen.
Die Performer, die alle die Fähigkeit besaßen, mit sehr wenig eine große Konzentration herzustellen, setzten sich leider und ausgesprochenermaßen zum Ziel, sich über die Grenze des eigenen Könnens hinauszubewegen. Aber je mehr sie es darauf anlegten, nichts vorgefertigtes zu benutzen und nur aus der Analyse der Situation zu arbeiten, umso mehr blähte sich der Abend zu einem angestrengten und auch arroganten Hinhalten auf. Bevor man diese Künstler wieder besucht, möchte man sicher sein, dass sie sich an dem Abend auf ihre Fähigkeiten stützen.
Noch ein drittes Spiel mit dem Publikum, von außerordentlicher und vergnüglicher Leichtigkeit, soll erwähnt werden. Zum Festival gehörte, unterstützt vom Siemens Arts Program, eine Installation aus Wasser vor dem Roten Rathaus auf dem Alexanderplatz. Der bildende Künstler Jeppe Hein hatte Wasserwände aus kleinen Fontänen angelegt, die in unregelmäßigen zeitlichen Abständen aufstiegen und wieder verschwanden. Sie umgrenzten vier Räume, die sich so ab und zu öffneten: Und dann konnte fast niemand, der vorbeikam, der Versuchung wiederstehen, in den Wasserpavillon einzutreten. Manchmal, wenn die Fontänen auf sich warten ließen, kamen so große Gruppen zustande, die sich dann plötzlich, vom Wasser wieder eingeschlossen, eng zusammendrängen mussten; manchmal hüpften Einzelne von Kammer zu Kammer. So wurde die Installation zu einer Partitur für das Publikum, von vielen Kindern, Familien und Touristen genutzt.
Es gab auf dem Festival auch schöne Produktionen, die einfach einlösten, was man von den langjährig immer wieder eingeladenen Künstlern erwartete: Dazu gehörte „Desh“ von Anne Teresa de Keersmaeker & Salvis Sanchis, in dem die belgische Choregrafin die indische Musik für sich entdeckte.
Andere Einladungen, wie von Mathilde Monnier, blieben sinnvoll, auch wenn ihre Produktionen spröde waren: weil man damit endlich mehr von jemand kennen lernen konnte, dem ein guter Ruf vorauseilt. Nicht zuletzt ging eine Sache auf, die Festival und Stadt gleichermaßen zugute kommen, nämlich die Stärke von Berlin als Produktionsstandort zu betonen, etwa mit dem überdrehten Witz und der bitteren Komik von Constanza Macras in „Wonder Woman“ oder mit Sasha Waltz, deren Operninszenierung „Dido & Aeneas“ das Festival in der Staatsoper heute und morgen beenden wird. Man hat ja allen Grund, sich hier vor Ort verwöhnt zu fühlen. Nicht zuletzt in diesem Luxus liegt der Grund dafür, dass vielen die Sache am Ende nicht glanzvoll genug schien.