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Klatschgeschichten der anderen Art

Wegen des neuen Hangs zur Seriosität büßt Schalke 04 viel an Faszinationskraft ein. Viele klagen gar über Langeweile. Für die derzeitige sportliche Krise ist das indes von Vorteil

Aus GelsenkirchenDaniel Theweleit

Domenico Tedesco ist ein Trainer, der es liebt, Begriffe zu verwenden, die nicht zum üblichen Repertoire der Fußballphrasen gehören. Manche Beobachter finden seine Wortkreationen mitunter gestelzt und akademisch, am Tag vor dem Duell seiner Schalker gegen Bayern München (Samstag, 18:30 Uhr) überrascht er seine Zuhörer nun mit der Aussage, er arbeite mit seinen Spielern an der Erzeugung von „Klatsch-Geschichten“. Es ist ja sehr ruhig geworden im Umfeld des Klubs, langweilig sagen Kritiker, und die magere Kulisse, die am vorigen Dienstag zum 1:1 gegen den FC Porto nach Gelsenkirchen gekommen war, stützt diese These: 9.000 Plätze in der Arena waren leer geblieben – ein historischer Minusrekord. Aber natürlich spricht Tedesco nicht von Anekdötchen für Gossipfreunde, vielmehr arbeitet er mit seinen Spielern „an Steil-Klatsch-Geschichten übers Zentrum“, lautet die exakte Zitierung der Aussage. Das Team soll ein schnelles Kombinationsspiel in den engen Räumen vor dem gegnerischen Tor lernen.

Auf Schalke steht das Fachliche so stark im Zentrum wie seit vielen Jahren nicht, und es stellt sich schon die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der radikalen Besinnung auf das Wesentliche und dem schwindenden Interesse an diesem Klub besteht. Der miese Saisonstart mit drei Bundesliganiederlagen habe jedenfalls „null komma null damit zu tun“, erwidert Sportvorstand Christian Heidel. Eher sei die späte Anstoßzeit um 21 Uhr abschreckend gewesen, doch es gibt noch ein anderes, ein schleichendes Phänomen: Der FC Schalke hat grundsätzlich an Faszinationskraft verloren. Man kann das an den Klickzahlen der Geschichten über den Revierklub im Internet erkennen, an den Einschaltquoten im TV und viele Fußballinteressierte müssen nur in sich selbst hineinhorchen, um zu erkennen: Schalke 04 ist nicht mehr so aufregend.

Bis vor zwei, drei Jahren war der Klub eine legendäre Theaterbühne für große Dramen und Tragödien. In den 1970er Jahren waren die Schalker in den Bundesligaskandal verwickelt, unter dessen Folgen die Ruhrpottikone Stan Libuda zu Grunde ging. Schalke stieg in die zweite Liga ab, verkörperte das Verlierertum, als die Steinkohleindustrie zu sterben begann. Das Aufblühen Ende der 1990er Jahre mit dem krönenden Uefa-Pokal-Sieg faszinierte die gesamte Fußballnation. Es gab die unfassbare Vier-Minuten-Meisterschaft 2001, schillernde Präsidenten wie den „Sonnenkönig“ Günter Eichberg, und Rudi Assauer war nicht nur ein großartiger Manager, sondern fast schon eine literarische Figur. Erschüttert wurden die Schalker von diversen Finanzkrisen, Gerüchten über zwischenzeitliche Liquiditätsprobleme, die dubiose Anleihe des windigen Investmentbankers Stephen Schechter sorgte für Schlagzeilen, und Felix Magath, der Trainer und Manager zugleich sein durfte, wurde von den Mitarbeitern als „Besatzungsmacht“ empfunden. Und wenn es nicht lief, war Aufsichtsratschef Clemens Tönnies, der Fleischfabrikant, immer für eine krachende Aussage gut. Gerne in der „Bild“-Zeitung, die in diesem Klub über Jahre massiv Einfluss nahm.

Bis vor zwei, drei Jahren war der Klub eine legendäre Theaterbühne für große Dramen und Tragödien. Schalke verkörperte das Verlierertum

Seit Heidel auf Schalke ist, wird vernünftig gearbeitet, und Tönnies macht, was ein Aufseher tun muss: Er kontrolliert, statt ständig unkundige Kommentare in die Welt zu setzen. Es droht keine Pleite mehr, kein Abstieg, und der besondere Ruhrpottcharme, den die Patina des Parkstadions verstrahlte, ist für Besucher der Gelsenkirchener Fußballhalle schon lange nicht mehr spürbar. Nur die Imagefilme, die vor den Partien laufen, und das Steigerlied wecken die alten Bergarbeitergefühle.

Schalke war immer streitbar und hoch intensiv. Wäre die Bundesliga eine TV-Serie, wären die Schalker über Jahre eine der charakterstärksten Figuren gewesen, eine geniale Schöpfung des Drehbuchautors. Eine Figur, die nun in einer Art Psychotherapie erfolgreich vom Wahnsinn befreit wurde. Das ist einerseits erfreulich für den Patienten, im Fußballvolk, das unterhalten werden möchte, kann diese Entwicklung aber auch als echter Verlust empfunden werden. Dafür hat Tedesco recht, wenn er sagt, dass die Stimmung derzeit „nicht so schnell kippen“ werde wie in den Jahren der Dauerhysterie. Und das ist eben auch viel Wert.

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