Guter, dicker, unglücklicher Junge

Trotz beträchtlicher Längen: The Cure ließen bei ihrem einzigen Deutschland-Konzert in der Wuhlheide allen Weltschmerz vergessen

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Einer echten Cure-Verehrerin tut es immer weh, wenn über Robert Smith gespöttelt wird. Ob man schon weiß gepudert sei, ob man die Haare schon toupiert habe, fragten am Sonntagnachmittag die unverständigen Bekannten. Man mag sie nicht mehr hören, diese Witzchen über Altgrufties, über Vogelnestfrisuren und Weltschmerz. Denn ist trotz allem das Gruftentum in der historischen Rückschau nicht doch die Beste aller Jugendkulturen? Tut es nicht gerade heutzutage gut, neben all dem grundlos fröhlichen Zeug, den platten Durchhalteparoleliedern, den seichten Wohlfühlmelodien aus dem Radio wieder düstere Musik zu hören?

Wer durch die Gnade der frühen Geburt 1979, bei der ersten Cure-Platte „Three Imaginary Boys“, schon jugendlich war und diese neue englische Band entdecken konnte, der hat ältere Rechte an The Cure, der lässt sich die Band nicht madig machen, auch wenn nicht mehr jede neue CD gekauft werden muss. Und so machte man sich am Sonntagabend auf den Weg zur weitläufigen Wuhlheide, denn dort sollten The Cure auf der Freilichtbühne ihr einziges Deutschlandkonzert geben.

Düster geriet dann schon die Anfahrt, Republikaner- und NPD-Plakate säumten die Straßen im Zweimeter-Abstand. In der Freilichtbühne hatte sich ein vorwiegend dunkel gekleidetes, aber doch recht heterogenes Publikum versammelt, hier und da blitzten ein roter Samtumhang, ein schwarz-zerschlissenes Korsett auf, man sah Schnabelschuhe und Rockhosen, aber keinen weißen Puder, kein schwarzes Brautkleid. Allerdings erschrak man öfters, weil man plötzlich Robert Smith am Kindl-Bierstand oder in der nächsten Sitzreihe zu erblicken glaubte, denn die Smith-Lookalikes haben sich auch in Alter und Leibesfülle ihrem Idol angepasst.

Das Schöne an Robert Smith ist seine Verlässlichkeit. Er ist nie aus seinem Heimatort Crawley bei Brighton weggezogen, er ist immer noch mit der Frau zusammen, die er mit 18 Jahren kennen gelernt hat, er trägt immer noch schwarze Kleidung, hat seit 25 Jahren nichts an Frisur und Make-up geändert.

Dann gleißendes Licht von vorne, ein paar Gestalten schlichen auf die Bühne. Die Menge jauchzte auf – Robert Smith ist wohl der einzige Musiker, den man auch auf 100 Meter Entfernung an der Silhouette erkennt. Er ist älter geworden, er mag in die Breite gegangen sein, das Gesicht wirkt erschreckend füllig, aber die geliebte Stimme ist doch immer noch dieselbe. Ein Jammern hören die, die nichts verstehen. Dabei ist es doch ein selbstbewusstes Anklagen, ein traurig-trotziges Fordern – die einzig adäquate Haltung der Wirklichkeit gegenüber!

Das Spiel begann, die ausgefeilte Lichtshow ließ keine Farbkombination aus. In Blau, in Rot, in Purpur wurde die Bühne getaucht, die Band spielte und Robert sang und viele der Klagelieder kannte man nicht. Nur langsam verging die Zeit, es wurde klamm in der Wuhlheide. Kurz, aber nur ganz kurz, dachte man darüber nach, ob es möglich ist, dass eine Band einfach zu viele Alben, zu viele Lieder hat? Die Fans im Innenrund blieben tapfer, vertrieben sich die Zeit mit dem gothictypischen wiegenden Ausfallschritt, auch Nord-Süd-Linie genannt. Andere ruhten im Sitzrund, tranken Bier und stürmten nur bei bekannteren Hits wie „Lullaby“ und „Just Like Heaven“ nach vorne.

Kurzum, das Konzert hatte Längen, recht lange Längen, und selbst der große Cure-Fan zweifelte und haderte und grübelte, ob es nicht besser gewesen wäre, den Mythos zu bewahren und die Band niemals live gesehen zu haben. Aber dann, nach etwa zwei Stunden, kam das erste große Glücksgefühl bei „In Between Days“. Vorne wurde es immer voller, manche taumelten versonnen, Frauen in langen Kleidern ergingen sich in gezierten Tanzfiguren, ein Tänzer hatte sich fast ganz ausgezogen. Die Ultra-Fans aus Italien und Polen jaulten auf, wenn Smith die typischen hohen Gitarrentöne erzittern ließ, frohlockten sehnsüchtig, wenn er in ihre Richtung schaute. Dann sagte Robert Smith „Okay“ und ging von der Bühne, um aber doch gleich wiederzukommen. Die Spannung stieg.

Bei „Boys Don’t Cry“ hielt es keinen mehr auf den kalten Steinbänken, „The Forest“ legte den Wuhlheide-Wald in Trance, und weil Cure-Fans intelligent sind und nicht nur stumpf mitklatschen, setzten sie genau an den richtigen Stellen perkussive Akzente. Darüber freute sich der Sänger und konnte es doch nicht recht zeigen und sagte „Okay“ und ging und kam wieder.

Dann spielte die Band „Three Imaginary Boys“ und „10.15 Saturday Night“ und „Killing an Arab“ und es gab kein Halten mehr. Die Menge wogte in orgiastischem Tanz, man wogte mit, dumm vor Glück, und alle Pein der letzten Stunden ward vergessen! Zum Schluss dann doch noch ein längerer Downer, aber man darf die Leute schließlich nicht in der euphorischsten Hitze entlassen.

Robert Smith sagte zum Abschied mehrmals „Okay okay!“ ins Mikrofon, so ganz schüchtern. Und so ganz arg lieb verhaltensgestört lief er, unfähig zu einer Geste, unbeholfen die Zuschauerreihen ab – der gute, unglückliche, dicke Junge!

Dann, nach fast drei Stunden The Cure, war es vorbei, und man verlief sich auf dem Rückweg noch ein bisschen in den dunklen Wäldern im tiefen Osten. Dabei aber trug man ein Licht im Herzen und die freudige Gewissheit, dass Robert Smith ein ganz feiner Mensch ist und The Cure die beste Band der Welt.