Ausgehen und rumstehen von Detlef Kuhlbrodt: Willst du mich mal oben sehen, musst du die Tabelle drehen
Komisch, dass der Sommer schon wieder vorbei ist, denkt man am Morgen. Weil der Termin eine Viertelstunde früher ist, als ich dachte, muss ich mich sputen. Zum Glück kommt die richtige U-Bahn in wenigen Minuten; ich lande punktgenau, muss aber ein paar Minuten warten, da noch ein Schmerzpatient in Arbeit ist.
Die Praxis ist angenehm. Es gibt zwei schöne Gemälde, Spielzeug und Bilderbücher, und in den Vitrinen stehen die Gefährder: 0,7 Liter Bio-Fruchtsaft enthalten 47 Stück Würfelzucker! Ein kleiner Fruchtjoghurt ist mit sieben Stück dabei.
Wie erwartet, muss die 1,2 auch noch raus; einerseits schlecht; andererseits gut – danach werde ich aussehen wie ein lustiges Häschen. Aber zuvor wird noch ein bisschen gebohrt. Man ist erleichtert, dass es nicht so schlimm ist, und dann überrascht, dass die so harmlos scheinende Gebissabdruckprozedur doch ganz schön heftig ist. Eigentlich ist es auch nett, dass ich am nächsten Mittwoch wieder beim Kieferorthopädenchirurgen sein werde. So hat man immer was zu tun.
Ein bisschen angedätscht und guter Dinge gehe ich am Ku’damm spazieren, kaufe Kaffee und Aprikosenjoghurt von Landliebe bei Edeka am Wittenbergplatz. Fahre zwei Stationen mit der U-Bahn und geh den Rest nach Hause. In der U-Bahn wird für die Samenbank „komm-bei-uns-de“ geworben. Der Aprikosenjoghurt von Landliebe ist eine Enttäuschung. Nach zwei Löffeln hab ich keine Lust mehr und kaufe mir den Aprikosenjoghurt der gläsernen Molkerei, der gut schmeckt.
Weil an diesem Wochenende Bibliotheksfestival ist, steht am Blücherplatz eine kleine Stadt aus Holz wie bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg. Die einzelnen Bezirksbibliotheken haben jeweils einzelne Showrooms und stellen dort ihre Sachen vor. Der VÖBB ist nämlich 20 Jahre alt geworden und darf nun schon zwei Jahre lang rauchen. Nur nicht in den Innenräumen der Bibliothek; da ist das verboten, du Schlauberger. Im Grunde genommen ist es so ähnlich wie beim Karneval der Kulturen.
Das immer gleiche, abscheuliche Musikstück wird beim Bühnen- und Häuschenbau gespielt, um die Anlage zu testen. Mir ist schon ganz schlecht. Ansonsten ist die Umgebungsbeschallung ganz okay – es sind ja auch weniger Leute als beim Karneval der Kulturen, und alles ist erfreulich. Auch gibt es, wie schon vor 16 Jahren beim Karneval der Kulturen, eine mongolische Jurte. Schön angedichtet hatten wir damals darin gehockt, und der mongolische Tee hatte komisch geschmeckt.
So war das gewesen. Letztendlich hat man ja doch schon ganz schön viele Abenteuer erlebt.
Am nächsten Morgen ist es ein bisschen kühl und herbstlich. Gegen Mittag gibt es eine kleine Rede von der Bühne, die ich nicht verstehe, weil ich zu weit weg bin. Am Nachmittag will ich wie immer am Samstag M. besuchen. Leider ist er wieder im Krankenhaus. Ich schaue die erste Halbzeit des Schalke-Spiels (meine Lieblingsmannschaft), vergesse dann aber die zweite zu sehen. Und als ich spät abends denke, jetzt ist bestimmt „Sportstudio“, ist da noch eine andere Sendung, die ich nicht angucken möchte. Und am nächsten Tag steht im Internet, dass wir verloren haben: Willst du mich mal oben sehen, musst du die Tabelle drehen.
Der Sonntag ist relaxt. Von Weitem hört man die aus Wien stammende Kinderliedermacherin Suli Puschban von einem Supergirl singen und danach ihr Lied „Ich hab die Schnauze voll von Rosa“. Als ich auf dem Platz spazieren gehe, ist sie schon fertig, und junge Rapper stehen auf der Bühne. Seyo ist erst 13; ich bin ganz beeindruckt, dass er seinen ganzen Text auswendig kann. Und Alman rappt für seine Mutter, die vor sechs Jahren gestorben ist. Am Rande der Veranstaltung stehen drei Zelte, in denen Bettler, glaube ich, wohnen. Einer von ihnen liegt am Rande auf einer Decke und ruht sich aus.
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