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Selektive Wahrnehmung

Weil sich die Japanerin Naomi Osaka nicht vom Ballyhoo ihrer Konkurrentin Serena Williams kirre machen lässt, gewinnt die 20-Jährige ihr erstes Grand-Slam-Turnier

Aus New York Jörg Allmeroth

Im ohrenbetäubenden Pfeifkonzert zog Naomi Osaka ihre Schirmmütze ganz tief ins Gesicht. Aber ihre Tränen bei der Siegerfeier konnte die US-Open-Königin nicht verbergen, nicht vor den Fans im größten Tennisstadion der Welt, nicht vor einem TV-Millionenpublikum rund um den Erdball: Der erste Grand-Slam-Sieg des 20-jährigen Ausnahmetalents, der erste japanische Triumph bei einem der Tennis-Majors überhaupt verlief jenseits aller Norm und Ordnung. Osakas erstes strahlender Höhepunkt in einer vielversprechenden Karriere, der 6:2, 6:4-Sieg gegen Serena Williams, ging beinahe unter in den Tumulten um die Schiedsrichterbeleidigungen des amerikanischen Superstars. „Es war kein schönes Ende“, sagte Osaka später, „ich habe fast ein wenig gelitten mit Serena. Sie ist schließlich mein großes Idol, und sie wird es auch bleiben.“

Dabei hatte sich Osaka, die neue Größe im globalen Frauentennis, die uneingeschränkte Aufmerksamkeit nach diesem Endspiel mehr als verdient. Denn wie die abseits der Courts scheue und schüchterne Asiatin in diesem ultimativen Zweikampf mit ihrem eigenen Idol auftrat, war bemerkenswert und eines Grand-Slam-Titels würdig. Osaka spielte couragiert und konzentriert in der Startphase des Endspiels. Und sie blieb auch ruhig, ja geradezu abgebrüht, als das Final-Chaos um und mit Williams seinen Lauf nahm. „Ich war so auf mich selbst fokussiert, dass mich das alles gar nicht so berührt hat.“

Auch in ihrem letzten Aufschlagspiel in der aufgeheizten Atmosphäre im Ashe-Stadion zeigte Osaka keine Nerven, servierte die Partie für sich seelenruhig über die Ziellinie. „Ein Meisterwerk“ sei das gewesen, sagte Trainer Sascha Bajin. Auch für den Münchner Übungsleiter war es der erste Coup seiner Karriere, einst hatte er als sogenannter Sparringspartner von Serena Williams im Wanderzirkus begonnen. Auf die Frage, ob es eine große gemeinsame Siegesfeier im Team Osaka geben werde, entgegnete die Gewinnerin des Tages hinterher indes abwehrend: „Ich werde eher schlafen gehen. Oder ein Videospiel spielen.“ Und ein Gläschen Schampus, zur Feier des Tages? „Nein, ich bin doch erst 20“, sagte sie.

Osaka galt in Expertenkreisen schon länger als ein Versprechen für die Zukunft im Frauencircuit – auch, weil sie mit ihrem harten, konsequenten, zupackenden Spiel stets an ihr Vorbild Serena erinnerte. Um bessere Perspektiven für eine Tenniskarriere zu haben, war Osakas Familie 2001 nach Amerika gezogen. Vater Leonard Francois, ein US-Bürger mit haitianischen Wurzeln, hatte sich vor allem am Werdegang der Williams-Schwestern orientiert und eine ähnliche Laufbahn für seine Kinder Mari und Naomi erhofft. Doch nur Naomi schaffte den Sprung in die internationale Spitze, bereits mit 15 Jahren spielte sie ihre ersten Turniere auf der WTA-Tour. Im März holte sie ihren ersten wichtigen Titel, beim Topwettbewerb im kalifornischen Indian Wells, gewann dabei gegen die früheren und aktuellen Nummer eins-Spielerinnen Maria Scharapowa, Karolina Pliskova und Simona Halep. Der New Yorker Titelcoup katapultiert sie nun erstmals in die Top Ten, auf Rang 7 der Bestenliste.

„Ich habe fastein wenig gelitten mit Serena“

Naomi Osaka

Löst Osakas Triumph nun einen neuen Tennisboom in Japan aus? Bisher galt die US-Open-Gewinnerin daheim etwas abschätzig nur als „Hafu“, als Halbjapanerin. „Die Leute sind immer etwas verwirrt, wenn sie meinen Namen lesen – und mich dann irgendwann mit meiner Hautfarbe sehen“, sagt Osaka. Ihre Mutter war wegen der Ehe mit einem dunkelhäutigen Amerikaner sogar von der eigenen Familie verstoßen worden, hatte zehn Jahre keinen Kontakt mehr in die Heimat.

Am Wochenende indes sorgte Osakas Coup im fernen New York für ein wenig Ablenkung nach den Heimsuchungen der letzten Tage, dem Wetterchaos um Taifun „Jebi“ und dem schweren Erdbeben auf der Nordinsel Hokkaido. „Sie könnte jetzt zum zweiten Tennis-Superstar neben Kei Nishikori aufsteigen“, sagt die frühere japanische Topspielerin Kimiko Date, eine der langjährigen Weggefährtinnen von Steffi Graf, „und sie wird ein Gesicht der Olympischen Spiele 2020 in Tokio sein.“

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