: Vorturner Kuhn
Bei einer Stichwahl würde Fritz Kuhn die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart mit deutlichem Abstand gewinnen. Dies ist das Ergebnis einer besonderen Emnid-Umfrage, die von der Kontext:Wochenzeitung in Auftrag gegeben wurde. Die beiden wichtigsten politischen Ämter in Baden-Württemberg lägen dann in der Hand der Grünen. Der erste Versuch eines Multimillionärs, in Deutschland Stadtoberhaupt zu werden, wäre gescheitert
von unserer Redaktion
Würde nach einer integrierten Stichwahl gewählt, wäre das Ergebnis klar: Fritz Kuhn läge mit mehr als neun Prozentpunkten (54,7 zu 45,3) deutlich vor Sebastian Turner, wenn die Stuttgarter nicht nur ihren Lieblingskandidaten, sondern auch ihren zweiten Favoriten bei der OB-Wahl angeben könnten.
Das Emnid-Ergebnis bei den Hauptstimmen entspricht in etwa dem der Infratest-dimap-Umfrage in der vergangenen Woche, die der SWR und die Stuttgarter Zeitung in Auftrag gegeben hatten. Fritz Kuhn (30,6) erhält einen Vorsprung von sechs Zehnteln vor Sebastian Turner (30,0). Bettina Wilhelm liegt bei 22,1 Prozent, Hannes Rockenbauch bei 12 Prozent. Nicht berücksichtigt ist dabei das Drittel der Befragten, das noch nicht wusste, wen es wählt oder ob es sich an der Abstimmung beteiligt. Gefragt hat Emnid im Auftrag der Kontext:Wochenzeitung 1.000 Wahlbürger, allerdings nur nach sechs von 14 Kandidaten, da die anderen nach unserer Einschätzung ohnehin keine Chance haben. Die Fehlertoleranz liegt im Mittel bei +/- 2,4 Prozentpunkten.
Emnid hat auch nach dem zweitliebsten Kandidaten gefragt, nach dem OB-Bewerber also, der bei einer Stichwahl gegebenenfalls zum Zuge käme, wenn der Wunschbewerber nicht mehr antritt. Falls Hannes Rockenbauch verzichten würde, wählten 47,3 Prozent seiner Wähler Fritz Kuhn, 13,6 Prozent Bettina Wilhelm und 1,8 Prozent Sebastian Turner. Wenn sich die SPD-Kandidatin zurückzöge, würden 33,7 Prozent ihrer Stimmen dem grünen Kandidaten zugute kommen und 28,3 Prozent Sebastian Turner.
Rockenbauch verdreifacht die SÖS-Stimmen
Fast sensationell sind die Umfrageergebnisse von Hannes Rockenbauch. Bei der Gemeinderatswahl 2009 kam sein parteifreies Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) auf 4,5 Prozent. Jetzt würde der 32-Jährige fast das Dreifache einfahren. Und das bei einem Werbeetat von 50.000 Euro, der nur ein Bruchteil des Budgets seiner drei Hauptkonkurrenten ausmacht. Auch Boris Palmer war bei seiner Kandidatur in Stuttgart 2004 erst 32 Jahre alt. Heute ist er OB in Tübingen.
Wenn SÖS das Umfrageergebnis bei der Kommunalwahl im Frühjahr 2014 hält, könnte die Fraktionsgemeinschaft SÖS/Die Linke mehr Sitze im Gemeinderat erhalten, als die SPD derzeit innehat. Sie wäre damit nach den Grünen und der CDU die drittstärkste Fraktion.
Die Grünen haben mit den Umfrageergebnissen ihren Spitzenwert bei der Landtagswahl 2011 (34,5 Prozent) deutlich verfehlt. CDU und FDP (Landtagswahl: 37,6 Prozent) verlören sogar 7,6 Prozentpunkte. Nur die SPD könnte sich leicht verbessern.
Im Vergleich zur Gemeinderatswahl (SPD: 17 Prozent) legt Bettina Wilhelm sogar deutlich zu. Sie hat als Einzige weit mehr Wählerinnen als Wähler. Und sie ist Spitzenreiterin unter den Wahlberechtigten mit Hauptschulabschluss sowie bei Menschen, die 60 Jahre oder älter sind. Fast ein Drittel dieser Altersgruppe wählt Wilhelm. Unter den 30- bis 39-Jährigen hat die SPD-Kandidatin dagegen nur knapp acht Prozent der Stuttgarter gewinnen können. Weniger als Hannes Rockenbauch und weniger als Harald Hermann von den Piraten. Mit 42,5 Prozent ist der Anteil von Sebastian Turner hier besonders hoch. In dieser Altersgruppe, aber auch nur in dieser, steht der Multimillionär oben auf dem Siegertreppchen.
Fiasko für den Geldadel und Schwarz-Gelb
Insgesamt sind die Prognosen für Sebastian Turner und seine Unterstützer aus dem Geldadel und in der Politik ein Fiasko. Zumal der als Unternehmer erfolgsverwöhnte Kandidat noch vor nicht allzu langer Zeit prognostiziert hatte, schon im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit zu holen.
Die Prognosen deuten in eine andere Richtung: Während CDU, FDP und Freie Wähler bei der Gemeinderatswahl vor drei Jahren noch zusammen 45,5 Prozent der Stimmen verbuchen konnten, liegen sie laut Emnid nur noch bei 30 Prozent. Infratest hat noch weniger ermittelt, nämlich 28 Prozent. Damit wäre Turners Ergebnis wesentlich schlechter als das von Wolfgang Schuster bei der OB-Wahl 2004. Ihm gaben im ersten Wahlgang 43,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme.
Stefan Kaufmann wird sich deshalb warm anziehen müssen, denn der CDU-Kreisvorsitzende hatte Turner bei der CDU gegen erheblichen Widerstand durchgeboxt. Begründung: Er habe eine „Strahlkraft über die CDU und das bürgerliche Lager hinaus“. Hat er laut unserer Umfrage aber nicht, und er hat wohl auch das „bürgerliche Lager“ nicht mehr, denn daraus wandern immer mehr Stimmen zu den Grünen. Nur so ist zu erklären, dass die vielen Stimmen, die Fritz Kuhn an Rockenbauch verloren hat, in der Bilanz nur wenig auffallen.
Umfrageergebnis bei integrierter Stichwahl
Das schlechte Abschneiden des Kandidaten der Piraten überrascht dagegen nur auf den ersten Blick. Die Politneulinge haben nicht begriffen, dass Hannes Rockenbauch genau für das steht, für das auch Piraten gewählt werden: für Parteienferne, Bürgerbeteiligung und Transparenz. Warum sollte man dann einen farblosen Piraten wählen? Für den in der breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannten Jens Löwe, der vom Stuttgarter Wasserforum und einigen S-21-Gegnern unterstützt wird, wären 2,4 Prozent dagegen ein Achtungserfolg.
Ob bei der OB-Wahl in London oder San Francisco oder bei der Präsidentenwahl in Irland: die Wähler müssen dort nur einmal zur Wahl gehen, doch sie haben zwei Stimmen. Das erste Kreuz gilt dem Lieblingskandidaten. Es ist die Hauptstimme. Die zweite ist die Ersatz- oder die Stichwahlstimme. Sie wird dann berücksichtigt, wenn keiner der Kandidaten mehr als die Hälfte der Stimmen erhält. Die Stichwahl ist also in die Wahl integriert. Ein Verfahren, für das sich in Deutschland der Verein Mehr Demokratie starkmacht.
Im Unterschied zur Infratest-Umfrage von SWR/StZ ließ die Kontext:Wochenzeitung die Stuttgarter Wahlberechtigten neben dem Lieblingskandidaten (Hauptstimme) auch nach dem zweitliebsten Kandidaten (Ersatzstimme) fragen. Hier das Ergebnis und die jeweiligen Auszählungsschritte für die Stichwahl:
Da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht, beginnt das Stichwahlverfahren. Zunächst scheiden Löwe und Hermann aus. Dafür werden die Ersatzstimmen ihrer Wähler den verbliebenen Kandidaten zugeordnet. Sie verfallen, wenn der Ersatzkandidat nicht mehr im Rennen ist.
Da immer noch kein OB-Bewerber die absolute Mehrheit hat, wird der nächste Kandidat gestrichen, Hannes Rockenbauch. Zwar profitiert Fritz Kuhn jetzt von Rockenbauchs Stimmen und kommt auf insgesamt 40,2 Prozent. Doch sein Stimmanteil ist noch weit von der 50-Prozent-Marke entfernt, sodass Bettina Wilhelm von der Liste gestrichen werden muss.
Erst jetzt überspringt Kuhn die 50-Prozent-Marke. Bei dieser Berechnung kommen 38 Prozent der Wilhelm-Wähler nicht zum Zug, da sie sich weder für Kuhn noch für Turner aussprechen, sondern für andere oder keinen Kandidaten.
Obwohl es bei repräsentativen Umfragen eine gewisse Fehlerquote gibt, kann man angesichts der großen Differenz davon ausgehen, dass Fritz Kuhn am 21. Oktober beim zweiten Wahlgang in Stuttgart gewinnen wird. Es sei denn, Bettina Wilhelm und Hannes Rockenbauch würden erneut antreten. Dann könnten sich die Ergebnisse der OB-Wahlen von 1996 und 2004 wiederholen, als sich Grüne und SPD im zweiten Wahlgang nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten festlegen wollten und damit dem CDU-Kandidaten Wolfgang Schuster zum Sieg verhalfen.
Stuttgart-21-Gegner bei allen Parteien
Interessant ist auch das Wahlverhalten der Gegner und Befürworter von Stuttgart 21. Immerhin neun Prozent aller Kopfbahnhof-Freunde wählen Sebastian Turner, 20 Prozent aller S-21-Befürworter machen das Kreuz bei Fritz Kuhn. Offensichtlich sind für Wählerinnen und Wähler bei der OB-Wahl noch andere Kriterien ausschlaggebend.