Den Konsens wollen

Der Mathematiker Erich Visotschnig laboriert an einem neuen Wahlsystem, um die Demokratie zu retten

Erich Visotschnig: „Nicht über unsere Köpfe“. Oekom Verlag, München 2018, 196 Seiten, 20 Euro

Von Ralf Leonhard

Nichts Geringeres als eine neue ­Demokratieordnung für die Welt schwebt Erich Visotschnig vor, eine Demokratie, die nicht über Mehrheiten funktioniert, sondern über Konsensermittlung. Das etwas utopisch klingende Konzept würde sowohl Populisten als auch Lobbyisten ausbooten und Kriege vermeiden helfen. Systemisches Konsensieren, kurz SK, heißt dieses Konzept.

Um es anschaulich zu machen, stellt er in seinen Seminaren das bekannte Spiel des Sesselreigens, auch bekannt als „Reise nach Jerusalem“, auf den Kopf. Es geht nicht mehr darum, einen der freien Stühle zu ergattern und in jeder Runde einen Spieler auszuschließen, sondern auf den weniger werdenden Stühlen alle Mitspieler unterzubringen: „Im zweiten Fall sind alle hilfsbereit und versuchen, die Plätze möglich optimal für alle auszunutzen.“ Gefördert wird also nicht Konkurrenzdenken, sondern Kooperation und Hilfsbereitschaft.

Der Autor, promovierter Mathematiker und Physiker, der als Softwareentwickler auch in Deutschland gearbeitet hat, will die Bevölkerung ab der untersten Ebene an Entscheidungsprozessen beteiligen. Grundlage sollen nicht einfache Mehrheitsentscheidungen sein, sondern das Konsensieren von mehreren Alternativen. Er belegt mit Beispielen, wie von mehreren Optionen oft nicht die mit den meisten Stimmen befriedigend sein kann, sondern jene, die am wenigsten Gegenstimmen bekommt.

Seiner Erfahrung nach entwickeln die Menschen hohe Kreativität, wenn man sie mitbestimmen lässt. „Einflusslosigkeit erzieht zur Verantwortungslosigkeit“, lautet eine seiner Schlüsselthesen. In der heute praktizierten repräsentativen Demokratie delegiert man seine Stimme an eine Person oder Partei und hat dann keinen Einfluss mehr auf deren Verhalten. Wenn die Bevölkerung permanent in politische Entscheidungsprozesse – von der Umfahrungsstraße des Dorfes bis zu EU-Beschlüssen – eingebunden sei, fühle sie sich ernst genommen und entwickle auch Verantwortungsgefühl. Studien und Experimente belegten, dass die Schwarmintelligenz fast immer richtig liege.

Visotschnig entwirft ein Mitbestimmungsmodell, das auf den ersten Blick etwas kompliziert klingt, aber dank Internet technisch keine extremen Herausforderungen böte. Er kennt natürlich die in indianischen Völkern verbreitete Konsensfindung, die erst dann endet, wenn alle zustimmen. Er hält sie aber für zu umständlich und blockierbar. Seine SK sei nicht blockierbar. Nach seiner Erfahrung mit einzelnen Un­zufriedenen schließen sich diese am Ende der gefundenen Lösung an, weil sie anerkennen, dass alles unternommen wurde, um auch ihre Einwände zu berücksichtigen. Visotschnig macht sich keine Illusionen, dass sein in den letzten knapp 20 Jahren entwickeltes Modell sich bald auf höchster Ebene durchsetzte. Im Gegenteil, er hielte das für gefährlich. Denn SK setzte eine Bewusstseinsänderung voraus, die auf der untersten Ebene beginnen müsse.

Die kleine oberösterreichische Gemeinde Munderfing praktiziert das Modell Bürgergesellschaft seit knapp zwei Jahren. Offenbar mit Erfolg. Als Ziel hat man sich gesetzt, auf kommunaler Ebene ­Onlinekonsensieren zum Regelfall zu machen.