: Lesen – die komplizierte Kulturtechnik
DER FORSCHER Lesen lernt man in Etappen, erklärt Sascha Schröder. Erst sind Worte wie Bilder, dann zerfallen sie in Buchstaben, dann werden sie als Silben wieder zusammengesetzt
Wie Lesen geht? „Da gibt es noch viel herauszufinden“, sagt Sascha Schröder. Psychologe und Linguist ist er. Seit diesem Sommer leitet er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ein neues Forschungsprojekt. „REaD“ heißt es. Herausfinden will das Forschungsteam etwa, warum einige Kinder sofort begreifen, wie Lesen geht, andere lange dafür brauchen. Und warum einige es überhaupt nicht lernen.
Aber eigentlich sind die Fragen – so gestellt – zu groß. Beim REaD-Projekt, das Schröder leitet, wird alles noch einmal in Teilschritte zerlegt. Man will wissen, welche Entwicklungswege es beim Lesenlernen gibt. Welche Teilprozesse eine Rolle spielen. Welche Konsequenzen das hat. Warum einige schnell lesen, andere langsam. Wüsste man das, könnte es in den Schulunterricht einfließen. – Es klingt als gelte aus Forschersicht: „Zurück auf Start!“
Aber ganz so, als wisse man bisher nichts über den Prozess des Lesenlernens, sei es nicht, meint Schröder bei einem „Türöffner-Tag“, den die Forschungsgruppe in Berlin veranstaltete. Man könne, erläutert er, im Deutschen drei Schritte beim Lesenlernen unterscheiden. Mit der logografischen Phase steigen die meisten Kinder ein. Soll heißen: Sie sehen Worte als Bilder. „McDonald’s“ ist so ein Wort. Das geschwungene „M“ ist das Erkennungszeichen. Würde man das Wort „Maschine“ mit dem „M“ aus „McDonald’s“ schreiben, würden die Kinder statt „Maschine“ vermutlich „McDonald’s“ lesen.
Im nächsten Schritt, der alphabetischen Phase, lernen Kinder, einen Buchstaben nach dem anderen zu identifizieren und einem Laut zuzuordnen. Im deutschsprachigen Raum kann man Kinder damit gut ans Lesens heranführen, da das geschriebene Deutsch in weiten Teilen dem gesprochenen entspricht. Im Englischen gehe das nicht. Dort muss Lesen – aufgrund der Varianz zwischen Geschriebenem und Gesprochenem – über ganze Wörter gelernt werden. Es dauere deshalb etwa zwei Jahre länger, bis Kinder, die auf Englisch alphabetisiert werden, flüssig lesen können, erklärt Schröder.
Nachdem Kinder hierzulande also gelernt haben, einen Buchstaben mit dem nächsten zu verbinden, käme die orthografische Phase, in der bestimmte Buchstaben zu Sinneinheiten verschmolzen und als Ganzes gelesen werden – Vorsilben etwa, die Wortstämme oder grammatikalische Flektionen. Die orthografische Phase ist die, in der das Lesen effizient wird. Der Prozess kann Jahre dauern. Und auch nach Jahren gibt es Leute, die schnell lesen, und andere, die nicht schnell lesen, und die Forscher wissen nicht warum. „Lesen ist mit die komplizierteste Kulturtechnik“, sagt Schröder.
Am „Türöffner-Tag“ haben die WissenschaftlerInnen des REaD-Projekts einige Experimente aufgebaut. Etwa eines, in dem echte Wörter gelesen werden müssen und Quatschwörter – „Flimo“, „Subra“, „Merne“. Deutlich wird, dass alle – Kinder und Erwachsene – weniger Quatschwörter in einer Minute schaffen als richtige Wörter. Warum? Vermutlich, weil man bei Quatschwörtern in die alphabetische Phase rutscht und einen Buchstaben an den anderen hängt. Bei den richtigen Wörtern, die als Ganzes wahrgenommen werden, greift hingegen die orthografische Phase, meint eine Forscherin.
Bei einem anderen Experiment werden die Augenbewegungen getestet. Es zeigt sich, dass bei Leseanfängern die Augen von einem Wort zum nächsten wandern, während die Augen von leseerfahrenen Leuten springen und nur auf den Wörtern verweilen, die nicht so bekannt sind.
Selbst Körperbewegung scheint Einfluss aufs Lesen zu haben. Bei einem Experiment tauchten immer wieder Wörter auf, die richtig klangen und falsch geschrieben waren, wie „Leem“ statt „Lehm“. Mit der Hand sollte gezeigt werden, ob es sich um ein richtiges Wort oder ein falsches Wort handelte. Auch bei erfahrenen Lesern schlichen sich da Fehler ein. Die Forscher versprechen sich dadurch Hinweise, wie Handlung und Kognition interagieren.
Und warum das alles? „Zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung kämpfen mit ihrer Lesekompetenz“, sagt Schröder. Ein soziales Drama. Mehr Erkenntnis übers Lesen könnte die Zahl der Analphabeten senken, hofft er. WALTRAUD SCHWAB