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Was geschah am Hanging Rock?

Ally Klein ist eine Debütautorin mit unnachgiebigem poetischem Stolz. In ihrem ersten Roman „Carter“ beschreibt sie Figuren voller Eigensinn

Ally Klein: "Carter". Droschl, Graz 2018. 208 Seiten, 20 Euro

Von Elisabeth Wagner

Geisterstunde. Es ist Schlag zwölf, Mitternacht. Im Winter war sie in die Stadt gekommen, hatte lange gelesen und jetzt, da die letzte Seite ausgelesen war, fiel es ihr plötzlich auf. „Hinter der Scheibe, hinter dem dicken Glas war alles schwarz.“ Sie schnappte sich den Mantel und „stapfte nach draußen“.

Auf dem Weg in die Altstadt hört sie die Sirenen. Der Krankenwagen ist auf dem Weg zu ihrer Wohnung, zu ihrem leblosen Körper, den wiederzubeleben den Sanitätern nicht gelingen wird. Welches „Missgeschick“, welcher „furchtbare Fehler“, schießt es ihr durch den Kopf. Sie hat ihren Körper „vergessen“ und läuft, von „Scham angetrieben“, „eine Ewigkeit“ weiter. Bis zum „Wasser, schlundschwarz und still“.

So könnte es sein, oder anders. Dieser Fluss. Er könnte der Styx, der Fluss der griechischen Mythologie sein, der die Welt der Lebenden vom Reich der Toten trennt. Oder eben der Fluss einer namenlosen Universitätsstadt, an dessen Ufer eine junge Frau, neu in der Stadt, in einer Nacht im März nach einem offenen Kiosk sucht. Beides rückt Ally Klein in ihrem Debütroman „Carter“ in den Bereich des Möglichen, ja Plausiblen. Ein Zwischenraum entsteht, der geheimnisvoll leuchtet, gleich ob man ein Geist ist oder eine Lebende.

Die Liebe zum Beispiel kommt in jedem Fall aus dem Nichts. Das Ich steigt hinab in eine Bar „am alten Hafen“ und sieht zum ersten Mal Carter, diese Frau, die sich den Schnaps mit dem Handrücken abwischt, die ihre Schnürsenkel immer so bindet, dass sie sich nach kurzer Zeit wieder lösen, und deren Eigensinn unwiderstehlich ist. „Dunkles, wirres Haar, die Augen grün. Da war sie.“

Es ist schon eigenartig, mit dem Roman in der Hand an den diesjährigen Bachmann-Wettbewerb zu denken, an Ally Kleins überforcierte Lesung und an die Reaktionen der Jury, die von begeistert über ratlos ja bis fast gelangweilt reichten. Etwas wollte sich nicht fügen, und nun kann man vielleicht besser verstehen, wie ernst es der Autorin damit ist, sich jeder Auskunft, jeder Erklärung ihres Textes zu entziehen.

Sicher, man könnte vermuten, dass „Carter“ von Liebe handelt, von Einsamkeit und einer fast magischen Anziehung, von Tragödien, die einem passieren können, wenn man jung ist und noch die Ohren und Augen hat für halbe Gesten und knappe Sätze, an denen man alles und nichts versteht. Es geht um Begegnungen auf Leben und Tod. Sagen wir, um eine Frau, deren Wahrnehmungen von solcher Kraft und Schärfe sind, dass die Außenwelt darüber unlesbar wird.

Sie sehe aus wie 16, sagen die Leute diesem Ich. Wie es denn sein könne, dass sie fast ein ganzes Medizinstudium hinter sich gebracht und doch abgebrochen habe. Eine Antwort bleibt aus, höchstens kann man vermuten, dass dieses mimetisch begabte und sich bis in den Wahrnehmungskrampf hineinsteigernde Ich über den Körper nicht in der Sprache der Diagnose verhandeln kann.

Tragödien, die einem passieren können, wenn man jung ist und noch die Augen hat für halbe Gesten

Zwischen Bier und Zigaretten, zwischen schwitzenden Tänzern, im Keller der Bar und auf dem Dach des alten Casinos zählt jeder Blick. Wie Risse laufen sie durch diesen mit äußerster Präzision formulierten und in keiner Zeile um den Leser buhlenden Text. Das Ich könnte jederzeit darin verschwinden. Suchen, vermuten, sich einen Moment lang fast sicher sein und wieder unsicher werden. Die Lektüre beschreibt eine Kreisbewegung, und dazu passt, dass der letzte Satz des Romans direkt zurück an den Anfang führt.

Auch eine bewundernde Bemerkung scheint von Belang, die das Ich gegenüber der von ihm „anfangslos“ geliebten Carter macht, Sie betrifft Joan Lindsays Roman „Picnic at Hanging Rock“, den zur Freude der Erzählerin auch Carter kennt.

Was geschah mit den Mädchen am Hanging Rock? In einem Interview von 1974 hat sich Joan Lindsay anlässlich der Verfilmung ihres Buches jeder abschließenden Interpretation verweigert und davon gesprochen, dass sie die Armbanduhren ihres Sitznachbarn häufig durch bloße Anwesenheit zum Stehen bringe. Mit dem unnachgiebigen poetischen Stolz Ally Kleins könnte es sich ähnlich verhalten. Immerhin zeigen auch für „Carter“ die Zeiger der Deutungsuhren auf Geheimnis. „Vielleicht geht’s ja genau darum, dich nicht zu begreifen“, heißt es bei Ally Klein.

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