: Die Enkel Schwejks
TSCHECHIEN Das Land war in seiner Geschichte zu oft bedroht, als dass es ohne Protest Souveränität abgeben würde. Über die Kunst der Irreführung und den Vorteil, von Brüssel regiert zu werden
■ Juristisch: Verletzt der LissabonVertrag die tschechische Verfassung, etwa durch die Übertragung von nationalen Kompetenzen nach Brüssel? Über diese Grundsatzfrage berät heute das tschechische Verfassungsgericht in Brünn. Die 17 Senatoren, deren Klage verhandelt wird, sind das letzte juristische Bollwerk, mit dem Präsident Václav Klaus seine Weigerung begründet, als letztes Staatsoberhaupt der EU das Vertragswerk zu unterzeichnen.
■ Politisch: Eine erste Beschwerde hatten die Verfassungsrichter bereits im November 2008 abgewiesen. Václav Klaus, der bisher den Lissabon-Vertrag strikt abgelehnt hatte, machte in letzter Zeit jedoch deutlich, das Abkommen zu ratifizieren, sobald das Verfassungsgericht geurteilt hat und die EU Tschechien außerdem eine Ausnahmeregelung bei der EU-Grundrechte-Charta zugesteht. Diese letzte Forderung begründet Klaus damit, die Wirksamkeit der Benes-Dekrete international abzusichern, mit denen er deutsche Eigentumsansprüche im ehemaligen Sudetenland abwehren will. Wenn Václav Klaus unterschreibt, kann der Lissabon-Vertrag ohne weitere Verzögerung noch in diesem Jahr in Kraft treten. Ob das oberste Gericht bereits heute entscheidet, ist allerdings offen. (taz)
AUS PRAG SASCHA MOSTYN
Als das tschechische Fernsehen vor einigen Jahren einen Wettbewerb zu der Frage startete, wer der größte Tschechen aller Zeiten sei, stand es bald vor einem Problem: Nicht Kaiser Karl IV., Reformator Jan Hus, Dichterpräsident Václav Havel oder Goldkehlchen Karel Gott heimsten die meisten Nominierungen ein, auch nicht Staatspräsident und EU-Gegner Václav Klaus, sondern Jára Cimrman.
Der Sohn eines böhmischen Schneiders und einer österreichischen Schauspielerin, geboren in Wien zwischen 1853 und 1884 – es heißt, seine Geburtsurkunde sei etwas unleserlich – wird heute noch von vielen verehrt als einer der größten Dramatiker, Dichter, Musiker, Philosophen, Erfinder und Sportler seiner Zeit. Cimrman soll den Panama-Kanal gebaut und das galizische Schulsystem reformiert haben. Ihm wird die Erfindung des Bikinis ebenso zugeschrieben wie der CD, der Cimrman-Disk, die im Jahre 1979 als Compact Disk wiederentdeckt wurde. Cimrman galt als Abenteurer, der in den Alpen auch als Hebamme arbeitete und in Paraguay ein Marionettenthater gründete. Aber vor allem war Cimrman ein tschechischer Patriot.
Trotzdem wurde die Nominierung zum „größten Tschechen“ vom Fernsehen reserviert aufgenommen. Wenig später wurde das Genie ganz disqualifiziert, was in Tschechien zu einigen Protesten und Petitionen führte. Seinen Schritt begründete das Fernsehen damit, dass Jára Cimrman nie existiert habe.
„Das zeigt, dass Tschechen Humor als einen Wert betrachten,“ kommentierte Schauspieler Zdeněk Svěrák diese Entscheidung. Svěrák, der beim Wettstreit um den „größten Tschechen“ übrigens auf Platz 25 landete, ist zusammen mit seinem Kollegen Ladislav Smoljak schon viele Jahre ein sehr eifriger Unterstützer des Jára Cimrman.
Seit Ende der Sechzigerjahre ist Jára Cimrman fester Bestandteil des Repertoires der beiden Humoristen. Unpolitischer Schwejk? Fleischgewordene Sehnsucht einer kleinen Nation nach Größe? Oder einfach Manifestation des tschechischen Humors, dessen herausragende Eigenschaft die Mystifikace ist, die Irreführung?
Da treten Svěrák und sein Cimrman fest in die Fußstapfen von Jaroslav Hašek, dem Vater des „braven Soldaten Schwejk“. Hašek erfand als Redakteur des Magazins Welt der Tiere auch immer wieder neue Tierarten und trieb die Kunst der Irreführung auf die Spitze, als er kurz vor dem Ersten Weltkrieg als Kandidat der „Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes“ die Verhältnisse karikierte.
„Wir Tschechen lieben die Mystifikace, weil wir nicht fähig dazu sind, offen direkt und hart zu verhandeln“, erklärt Roman, der Soziologe, beim traditionellen Freitagsbier. Roman hat Philosophie und Soziologie studiert. Zumindest sagt er das. In Wirklichkeit hat er in Marxismus-Leninismus promoviert an einer Eliteuniversität in der damaligen Sowjetunion. Mit seiner eigenen kleinen Mystifikace hat er kein Problem. „Das ist vielleicht Mystifikace, aber sie beruht auf unserer wichtigsten Eigenschaft, dem Pragmatismus. Wären wir nicht so pragmatisch, würde es uns Tschechen schon längst nicht mehr geben,“ sagt Roman.
Pragmatismus auf tschechisch, das hieß in der Vergangenheit entweder Emigration oder Maulhalten. Denn wie kaum ein anderes Volk in Europa waren die Tschechen immer wieder von der Abwanderung ihrer Eliten betroffen. Im frühen 17. Jahrhundert rebellierten protestantische böhmische Stände gegen die drohende katholische Übermacht der Habsburger. Die „Schlacht am Weißen Berg“ gegen die Übermacht der Katholiken verloren sie innerhalb einer knappen halben Stunde.
Die Zerstörung von Glaube und Vision ist seitdem das Kreuz der tschechischen Geschichte. Wenn die Tschechen an etwas glaubten, dann blühten Staat, Gesellschaft und Kultur auf. Doch immer wieder wurden ihnen Glaube, Vision und Eliten genommen – sei es mit der Zerstörung der ersten Tschechoslowakischen Republik durch das Münchner Abkommen 1938, durch den kommunistischen Putsch 1948 oder durch das jähe Ende des „Prager Frühlings“ 1968. Für das Umfeld um Präsident Václav Klaus dürfte auch der Beitritt Tschechiens zur EU 2004 in diese Zerstörungslinie hineingehören. Was blieb, war Pragmatismus – und Jára Cimrman.
Und ein gesundes Misstrauen in jegliche Form staatlicher Bürokratie, die sich unter anderem niederschlägt im tschechischen Mantra, wer nicht den Staat beklaut, der beklaut die eigene Familie. Zur Vollkommenheit getrieben in der Zeit der Privatisierungen in den Neunzigerjahren. Tunelování – „Tunnelieren“ hieß damals das Zauberwort, mit dem die Tschechen ihren Wortschatz bereicherten. Tunnelieren ist eigentlich nichts anderes als der Transfer von Firmenkapital auf die Privatkonten der Firmenmanager. Nur dass es sich im tschechischen Fall um privatisiertes Staatseigentum handelte und immerhin 1,5 Milliarden Euro in dubiosen Kanälen verschwanden, während der Staat zuschaute. Es war die neue Elite, die da zugeschlagen hatte, die Super-Pragmatiker, die wussten, wie sie aus den neuen Gegebenheiten Kapital schlagen konnten.
Der Rest der Nation machte das, was er schon immer getan hat. Montag bis Freitag arbeiten und dann ab auf die Datsche. „Im Grunde genommen sind wir Tschechen ein Volk von Dörflern,“ meint Soziologe Roman. „Für uns ist es das Schönste, am Wochenende auf dem Dorf zu sitzen und zu arbeiten. Gurken züchten, Rasen mähen, irgendetwas bauen, Bier trinken. Und sich nicht um die da oben kümmern. Da gilt dann das tschechische Sprichwort: „Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh.“ Lächerlich das Theater, das die Deutschen um den Dienstwagen von Ulla Schmidt gemacht haben. Will der Regierungschef nach einem Staatsbesuch im Ausland nicht gleich zurück ins Büro, sondern lieber noch zum Skifahren nach Österreich? Dann ist es doch okay, wenn er mit seiner Maschine einen Zwischenstopp einlegt. Der tschechische Steuerzahler ist tolerant: Wer nicht den Staat beklaut, beklaut die eigene Familie.
Doch die Sprichwörter von gestern sind nichts mehr für morgen – so denken inzwischen viele junge Menschen. Langsam formen sich neue Eliten, die mit den alten nur noch die Liebe zum Bier gemeinsam haben. Man ist des Klientelismus und der Korruption der Neunzigerjahre langsam überdrüssig. Wer beim Skiausflug des Regierungschefs noch ein Auge zugedrückt hat, der macht jetzt den Mund auf, wenn derselbe Regierungschef sich von Anwärtern auf lukrative Staatsaufträge per Privatjet in den Urlaub fliegen lässt.
Doch Tschechen sind keine Kämpfer, keine aggressiven Demonstranten, die vorm Regierungssitz die Fäuste schwingen. Stattdessen lassen sie Plakate machen, zum Beispiel mit dem Antlitz des (inzwischen Ex-)Regierungschefs und seines Spindoktors. „Ihr arbeitet, wir verdienen“ lachen die beiden aufs Volk hinab. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass das Plakat nicht von den beiden beauftragt wurde. Mystifikace eben.
Und wo die nicht mehr hilft, da gibt es ja noch Brüssel. „Ich glaube ja gar nicht, dass die EU ideal ist. Aber ich lasse mich lieber von Brüssel regieren als von der korrupten Bande hier bei uns“, sagt Eugen, der mit einer Handvoll Gleichgesinnten vor der Prager Burg gegen Präsident Václav Klaus demonstriert. „Es wäre falsch zu glauben, alle Tschechen teilten den narzisstischen Versuch einer Person, in diesem Fall Václav Klaus, auf sich selbst aufmerksam zu machen,“ sagt Josef, Redakteur der linken Wochenzeitung Literární noviny. „Nur sind die halt nicht so aktiv, aber da zeigt sich mal wieder, wie uns der Glaube an die eigene Kraft fehlt,“ meint er.
Vielleicht nimmt die Kraft auch ganz andere Kanäle. Als Präsident Václav Klaus im Februar 2008 um seine Wiederwahl kämpfte, wurde im Internet ein Gegenkandidat aufgestellt. Der erhielt schließlich mehr Stimmen als der damalige Außenminister und beliebteste Politiker des Landes, Karel Schwarzenberg: Jára Cimrman.