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Archiv-Artikel

Falsch gemacht? Alles.

Prozess um den Tod der verhungerten siebenjährigen Jessica aus Jenfeld: Mutter räumt ein, ihre Tochter schwer vernachlässigt zu haben. Einen Teil der Schuld aber projiziert sie auf das Mädchen selbst. Der Vater nimmt keine Verantwortung auf sich

Von Elke Spanner

Kalt, gefühllos, hart wie Stein? Nein. Die Mutter von Jessica bringt vor lauter Tränen zunächst kein Wort heraus. Vor dem Hamburger Landgericht sitzt keine Angeklagte, deren mörderisches Verhalten man nach ihrer ersten Aussage nur mit eiskalter Berechnung zu erklären vermag. Es zeigt sich vielmehr eine Frau, die ihrer Tochter vieles von dem angetan hat, was sie selbst als Kind erleben musste. Und noch mehr.

Gestern räumte die 36-jährige Marlies S. ein, Jessica schwer vernachlässigt zu haben. Das Mädchen wurde ohne ausreichend Nahrung und Wasser in einem abgedunkelten Zimmer wie eine Gefangene gehalten. Die Siebenjährige starb am 1. März. Marlies S. und der Vater des Mädchens, Burkhard M., sind vor dem Landgericht wegen Mordes und Kindesvernachlässigung angeklagt.

Burkhard M. hört über Stunden reglos an, was seine Lebensgefährtin über das gemeinsame Leben in ihrer Hochhauswohnung in Jenfeld zu berichten hat. Der 49-Jährige selbst schweigt. In einer früheren Vernehmung, die das Gericht gestern verlesen hat, hatte er offenbart, die Existenz seiner Tochter schon Monate vor deren Tod missachtet zu haben. Seit Dezember vorigen Jahres habe er sich um sie „nicht mehr gekümmert“, im Januar habe er sie zuletzt gesehen. Für das Mädchen sei allein die Mutter zuständig gewesen, „wie zuvor auch“.

Von wirklichem Kümmern aber kann keine Rede sein. Seit Sommer 2000 hat Jessica die Wohnung im siebten Stock nicht mehr verlassen. Immer häufiger haben die Eltern ihre Tochter im Kinderzimmer eingeschlossen, um in ihre Stammkneipe zu gehen. Jessica habe sich seither körperlich und geistig zurückentwickelt. „Weil es mit der Sprache immer schlimmer wurde, wollte ich sie auch nicht in der Schule anmelden“, sagt die Mutter.

Auch Marlies S. selbst hat in ihrer Kindheit offenbar keinerlei Fürsorge erlebt. Sie kam als drittes Kind ihrer Mutter zur Welt. Ihre Geschwister hat sie nie kennen gelernt – was mit ihnen geschehen ist, weiß Marlies S. nicht. Ihren Vater hat sie ebenfalls nie kennen gelernt, die Mutter sei „immer betrunken“ gewesen. Ob diese noch lebe, wisse sie nicht. „Kann sein“, sagt sie auf die Frage des Richters und lacht kurz verächtlich auf: „Da ist nur Hass.“

Sie sei als Kind zumeist sich selbst überlassen gewesen, an Spielsachen oder schlicht schöne Momente erinnert sie sich nicht. Dafür an den sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel – dem ihre Mutter anteilslos zugesehen habe. Mit 13 Jahren kam Marlies S. zu ihrer Tante, als 17-Jährige in eine Jugendwohnung. Das Sorgerecht für die drei Kinder, die sie vor Jessica bekam, wurde ihr aberkannt.

Schon damals hatte das Jugendamt festgestellt, dass Marlies S. mit ihren Kindern „überfordert“ war. Auch dass sie später mit Jessica Probleme hatte, war den dort Zuständigen offenbar nicht unbekannt. Jahre vor dem Tod des Mädchens, berichtet Marlies S., habe ihr der Vater der anderen Kinder aus Sorge um Jessica „das Jugendamt auf den Hals gehetzt“.

So wie Burkhard M. die ganze Verantwortung für den Tod von Jessica auf Marlies S. schiebt, projiziert diese sie in ihrer Aussage zunächst auf ihr kleines Kind. Jessica, behauptet sie, „wollte“ seit ihrem dritten Lebensjahr nicht mehr rausgehen. Zwei Wochen vor ihrem Tod habe das Kind dann „nicht mehr richtig gegessen, das Trinken hat sie total verweigert“. Zum Vorwurf der Staatsanwaltschaft, Burkhard M. habe einen Lichtschalter in Jessicas Zimmer manipuliert, damit sie an einem Stromschlag stirbt, behauptet sie, Jessica habe diesen selbst „kaputtgemacht“.

Dem aber hält der Vorsitzende Richter entgegen: „Es fällt mir schwer, das zu glauben.“ Und als er Marlies S. schließlich fragt, wo sie ihre Schuld sehe und was sie falsch gemacht habe, da sagt sie nur ein Wort: „Alles.“

Der Prozess wird kommende Woche fortgesetzt.