StadtgesprächFabian Kretschmer aus Seoul: Süd- und nordkoreanische Familientreffen: Schmerz, Wut und ganz tolle TV-Bilder
Für den 76-jährigen Lee Jae-hwan stellte sich das Losglück schlussendlich als Fluch heraus: Unter 57.000 Südkoreanern wurde er als einer von nur 89 Teilnehmern ausgewählt, um am Montag bei den ersten Familienzusammenführungen seit über drei Jahren seine Verwandten aus Nordkorea wiederzusehen. Gleich am ersten Tag jedoch stürmte Lee erbost aus dem feierlich hergerichteten Bankettsaal im nordkoreanischen Diamanten-Gebirge: Dies seien gar nicht seine echten Nichten und Neffen, erzählte er sichtlich aufgelöst vor den Fernsehkameras. Auch der Nachweis der Familiendokumente von den nordkoreanischen Behörden konnte den Senioren nicht beruhigen.
Lag eine Verwechslung vor? Oder haben sich die Koreaner schlicht nicht mehr wiedererkannt? Nach fast sieben Jahrzehnten der Trennung wäre das keine Überraschung: Während der Wirren des Koreakriegs (1950-53) wurden weit über 100.000 Familien auseinandergerissen. Die Erinnerungen sind verblasst, Fotografien voneinander besitzen nur die wenigsten. Jenes bittere Gefühl der Entfremdung, von dem viele Teilnehmer der Familienzusammenführung nach ihrem Wiedersehen berichten, geht im Medientrubel oft unter.
Stattdessen dominieren herzerwärmende TV-Bilder: Gebrechliche Senioren, die im Rollstuhl die koreanische Grenze überqueren. Großmütter, die beim letzten Abschied von ihren Kindern in Tränen ausbrechen – wohl wissend, dass sie einander nie mehr wiedersehen.
Wie wirken wohl jene Fernsehbilder auf die Jugend des Landes? Auf Spurensuche an der Hankuk-Fremdsprachenuniversität in Seoul. „Um ehrlich zu sein lässt mich das relativ kalt. In den vergangenen Jahren gab es ja immer wieder solche Treffen, das ist nichts Neues für mich“, sagt ein Student mit Nickelbrille und Topffrisur. Seine Kommilitonin widerspricht: Sie sei beim Nachrichtenschauen während der letzten Tage den Tränen nahe gewesen. Ihr mittlerweile verstorbener Großvater sei einst selbst während des Koreakriegs vom Norden in den Süden geflüchtet. Seine Schwester und Eltern habe er dabei zurückgelassen – und die Erinnerungen an sie mit ins Grab genommen.
In Statistiken lässt sich eine ambivalente Haltung der südkoreanischen Jugend gegenüber Nordkorea herauslesen: Die Sympathien fürs Nachbarland sind nach den letzten innerkoreanischen Gipfeltreffen deutlich gestiegen. Gleichzeitig jedoch war die Bereitschaft zu einer möglichen Wiedervereinigung noch nie so gering. Mit jeder weiteren Generation wird Nordkorea zunehmend als fremdes Ausland wahrgenommen – und im Falle einer Wiedervereinigung vor allem als wirtschaftliche Last.
Dennoch ist man in diesen Tagen als deutscher Korrespondent in Seoul ein sehr gefragter Gast bei Talkshows: Wie war das bei euch nach der Wiedervereinigung, wollen die TV-Moderatoren fast täglich von mir wissen. Oder ob es damals auch Familientreffen zwischen West und Ost gegeben habe. Dabei sind die enttäuschten Reaktionen kaum zu übersehen, wenn ich vom ernüchternden historischen Vergleich erzähle: In Korea ist die Trennung schließlich weitaus strikter, haben sich die Gesellschaften längst stärker auseinander entwickelt und sind die Aussichten auf eine baldige Vereinigung dementsprechend düster. Von daher speisen sich die Tränen der älteren Südkoreaner angesichts der Familienzusammenführungen nicht nur aus Trauer, sondern auch aus Wut.
Die Historikerin Nan Kim von der Universität Wisconsin-Milwaukee hat über mehrere Jahre zu den Familienzusammenführungen geforscht. Ihr ernüchterndes Fazit: Viele der Teilnehmer hätten sich im Nachhinein gewünscht, gar nicht an den Familienzusammenführungen teilgenommen zu haben – aufgrund des Schmerzes, nach wenigen Stunden des Wiedersehens erneut Abschied nehmen zu müssen. Und dieses Mal für immer.
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